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Wie gehört das noch einmal zusammen? Döblin 1929 vor Radiogerät. Foto: Ullstein

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Kultur: Der Tatsachenfantast

Die erste große Biografie: Wilfried F. Schoeller erkundet das Jahrhundertgenie Alfred Döblin

„Ich kann nich ’nen Mann in Hypnose ersuchen, er soll mir’n Wort sagen, das mir für ihn fehlt“: So antwortete Alfred Döblin 1941 im kalifornischen Exil auf Bertolt Brechts Vorschlag, er als Nervenarzt könne doch zusätzlich als healer arbeiten. Denn als Drehbuchautor für Metro-Goldwyn-Meyer verdiente Döblin nicht genug. Er tat sich mit dem Englischen schwer und konnte auch nicht auf Bestellung schreiben, wie sich sein Sohn Klaus (Claude) erinnerte. Brecht stellte daraufhin erfreut fest, dass Döblin seinen Berliner Humor nicht verloren habe.

Kurz darauf ließ sich der Spross einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Stettin mit seiner bestimmenden Frau Erna und Stefan, dem jüngsten seiner fünf Söhne (darunter der uneheliche Bodo), heimlich katholisch taufen. „Der Schritt zum Christentum wurde ihm von wechselndem Publikum niemals verziehen“, schreibt Wilfried F. Schoeller: „Die Vorbehalte sind bis heute nicht geschwunden, sie haben eine eigene Tradition der Ablehnung gegenüber dem Spätwerk begründet, und die zwei großen, unter dem Einfluss des Christentums geschriebenen Romane, „November 1918“ und der „Hamlet“, befanden sich, was ihre Wirkung betrifft, jahrzehntelang wie unter einem schwarzen Schatten.“

Die Schilderung der Lebensumstände geht Hand in Hand mit der literaturgeschichtlichen Interpretation in dieser großartigen, überfälligen, ersten ausführlichen Biografie des Bruno Alfred Döblin. Das macht die gut 900 Seiten so spannend, als wohnte man mit am hochherrschaftlichen Kaiserdamm, wohin die Familie 1929 nach dem überwältigenden Erfolg von „Berlin Alexanderplatz“ aus der Frankfurter Allee zog. Dabei schöpfte Alfred Döblin aus den wunderlichen Fällen, die er sozialistischer Kassenarzt im armen Berliner Osten zu betreuen hatte.

In acht großen Abschnitten und rund 280 Kleinkapiteln nimmt einen das Buch mit auf Döblins „Schicksalsreise“ durch das besetzte Frankreich im Jahr 1940 in Richtung Portugal und USA. Am 21. Juli 1940 nahm sich der zweitgeborene Sohn Wolfgang, ein hochbegabter Mathematiker, in Housseras in den Vogesen das Leben, als die deutschen Truppen näherrückten. Dass Wolfgang und Klaus zur französischen Armee eingezogen wurden, war 1936 eine der Bedingungen für die Erteilung der französischen Staatsbürgerschaft an die Familie gewesen.

Die nachwirkende Katastrophe seines Sohnes Wolfgang habe auf geheimnisvolle Weise mit Döblins eigenem Vaterverlust korrespondiert, schreibt Schoeller. Max Döblin, der Frau und fünf Kinder im Stich ließ, um mit seiner Geliebten nach Amerika aufzubrechen, habe Alfred jedoch den freien Umgang mit der Philosophie vererbt, „die sich niemals zu einem System fügt, die in immer neuen Anläufen und Wendungen sich als enthusiastische Vorläufigkeit behauptet und als Element des Erzählens changiert“. Emanation als Prinzip, das scheinbar autonome Emporschießen der Stoffe und Motive, bringt Schoeller bei seinem Lieblingsautor mit dem Element des Wassers in Verbindung.

Das Experimentelle, die Fragezeichen bestimmten Döblins gewaltigen Erzählkosmos, seine „Tatsachenfantasie“. Das schlägt auch auf den Stil des Biografen durch, der in Ausschnitten erzählt und dadurch die Mitarbeit des Lesers einfordert. „Ich verstehe mich als Anwalt einer neu zu gewinnenden Döblin-Empirie“, sagt Schoeller über sein Projekt, mit dem er „die riesig gewordene Kluft zwischen angehäuftem Deutungswissen der Forschung und weit verbreiteter Unvertrautheit des lesenden Publikums“ überbrücken will. Schon 1994 hatte der langjährige Leiter der Abteilung Aktuelle Kultur im Hessischen Rundfunk dortselbst eine Döblin-Ausstellung unter dem Motto „Ich habe einen Bahnhof in mir, von dem gehen viele Züge aus“ arrangiert.

Diese Züge führen etwa in Döblins expressionistischem Debüt „Die drei Sprünge des Wang-lun“ von 1915 nach China, mit „Wallenstein“ in den Dreißigjährigen Krieg oder mit der „Amazonas“-Trilogie zu den hämmernden Sumpfhühnern und schreienden Affen im Regenwald. Amazonien, „das Land ohne Tod“, imaginierte er in den Nöten des Pariser Exils, wovon in der „fließenden Bewegung des Erzählers durch den exotischen Großraum“ (Schoeller) aber nichts zu merken war: ein autonomes Kunstwerk im Zeichen des Wassers.

Durch das unverantwortliche Verhalten des Vaters habe es Alfred Döblin nicht gewagt, seine eigene Ehefrau zu verlassen und sich zu seiner wahren Liebe Yolla Niclas zu bekennen, lautet eine zentrale These. Schoeller sichtete dazu im Marbacher Literaturarchiv erstmals einen 72-seitigen Bericht der Fotografin Niclas, die der 22 Jahre ältere Döblin 1921 bei einem Faschingsball kennengelernt hatte. Obwohl beide in die USA emigrierten, sahen sie sich nur noch ein einziges Mal – Erna hatte eine effiziente Kontaktsperre verhängt. Bereits die von Erna erzwungene Verlobung schilderte Döblin 1911 wie seine Hinrichtung. Yolla hingegen literarisierte er als als Verkörperung weiblicher Sanftmut und Hingabe.

Am 26. Juni 1957 starb Alfred Döblin mit 78 Jahren im Landeskrankenhaus Emmendingen bei Freiburg, in dem er einst als angehender Arzt famuliert hatte – ein letzter Deutschlandaufenthalt aus medizinischen Gründen. Denn eigentlich hatte das Ehepaar 1953 der unter Amnesie leidenden Heimat den Rücken gekehrt. Die Staatskanzlei von Rheinland-Pfalz hatte angeboten, den Parkinsonkranken in einer Einrichtung des Landes unterzubringen. Doch Erna lehnte in ihrem maßlosen Hass auf Deutschland alle Hilfsangebote ab, wie Schoeller anhand neuer Materialien belegt. Sie oktroyierte ihrem Mann, dem sie zehn Wochen später freiwillig in den Tod folgte, in Housseras sogar den Grabspruch „Dein Wille geschehe“. Aber war der späte Döblin wirklich ein zuverlässiger Christ? Sein Werk gibt darauf zu viele verschiedene Antworten.

Wilfried F. Schoeller: Döblin. Eine Biografie. Carl Hanser, München 2011. 916 Seiten, 34,90 €. Der Autor stellt sein Buch heute, 30.9., um 20 Uhr in der Akademie der Künste am Pariser Platz vor und diskutiert mit Ingo Schulze und Lothar Müller.

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