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Kultur: Der Theatertäter

Er erfand die zeitgenössische Bühne: Heute wird Kurt Hübner 90 Jahre alt / Von Günther Rühle

Kurt Hübner rühmen? Man kommt in Verwirrung. War er nicht Intendant des Theaters im letzten Jahrhundert – vor dem das heutige flieht? Des Theaters von früher? Man könnte ihn heute, spätestens morgen wieder gebrauchen. Seine Gegenwärtigkeit ist immer noch stark. Man trifft auf ein Mannsbild, weißhaarumloht, stattlich. Die Augen noch immer neugierwach, die Stimme raumdurchdringend, Erinnerungen ballend, Begründungen setzend. Nie hat dieser Mann das Theater verlassen, noch immer scheidet er das Mögliche von Unmöglichen, donnert seine Wahrheiten, gibt lustvoll und leibhaftig den Räsoneur, wie man ihn aus alten Stücken kennt. Sein Ächzen und alle Gebrechlichkeit ist geheuchelt, weil seine Lebenskraft all seine Stimmungen überrollt.

Noch immer ist er zugetan dem „Prinzip Jugend“; seit Jahren hob und hebt er – (von Elmar Goerden bis Sebastian Schug) junge Talente der Regie ins Licht und gibt ihnen (in Bensheim) den Genieklaps mit auf den Weg. Aus dem Prinzip ist herausgewachsen, was er für das ganze deutsche Theater getan hat. Mit der jungen Mannschaft, die er um sich versammelte, hat er das Theater gerüttelt, in Bewegung gebracht, ihm neues Personal zugeführt, ihm Mut gemacht, ein Beispiel gegeben.

Es war ein dramatischer Weg. Er führte weg vom Theater der Wiederaufbauzeit, der Rückgriffe, der großen Figuren, der imposanten Gemälde dramatischer Literatur und neuromantischer Empfindsamkeiten. Es war ein Weg in noch unbekanntes Gebiet, voll von Abenteuern der Fantasie. Er war gesäumt mit Turbulenzen, wie sie gefährlich sich zeigen, wenn die gewohnte Bilderwelt, wenn die eingeübten Begriffe von Ehrfurcht, Schönheit, Takt, Tradition, von „Werktreue“ und Sittlichkeit, kurz: die Konventionen verworfen werden und der Geist des Theaters aus der täglichen Fron des Vorstellungenmachens hervortritt. Nämlich: die Lust, sich Bilder neuer Art und neuen Inhalts zu erdenken, sie in Spiel zu verwandeln, damit die Gegenwart sich am Alten erkennen und sich über das Neue erregen kann.

Vergnügen und Erschrecken waren in Hübners Theater oft nah beieinander. Verschreckt und erregt spannte man auf das, was auf der Bühne geschehen werde. Das Vergnügen kam aus den Einfällen, von den frischen Schauspielern, den in Gang gesetzten Empfindungen, und aus der Lust, bei etwas dabei zu sein, das es nur in dieser Stunde gab und doch Geschichte machte. Das waren Geburtsstunden.

Was müssen Intendanten sein? Menschensammler, dann Inspiratoren, Wegweiser, Kritiker, Mutmacher und Durchhalter: Energiebündel, dauernd gesprächs- und begründungsbereit. Hübner konnte das alles. Und alles begann 1959 in Ulm, als der Schauspieler und Dramaturg Hübner dort Intendant wurde. Da wies er vor, was er mit wem wagen und wollen konnte. Hier erschien Peter Zadek und machte Furore mit der „Geisel“ von Behan, und der Frischling Wilfried Minks begann, seine erstaunlichen Bühnen zu bauen und die Erfindungen aus der Bildenden Kunst mit der Darstellenden zu kopulieren. Peter Palitzsch, Brechts Schüler aus Ostberlin, durfte hier Brecht vorführen, und als er nach dem Mauerbau – „Verräter“ riefen sie von drüben – mit Hübners Hilfe in Ulm blieb und den „Prozeß der Jeanne d’Arc“ zu Ende inszenierte, war das das Signal, dass der ausgerufene Boykott für Brecht keine Chance hatte. Ulm, das war die Stammzelle des Kommenden. Als man 1962 Hübner und diese Mannschaft nach Bremen rief, hoffte man auf tüchtige Praktiker und brave Könner. Es kamen Um- und Neudenker, Leute, die aus ihrem privaten Antrieb ein ästhetisches Erlebnis mit öffentlicher Bedeutung entwickelten. Stück und Stück, sicher im Gefühl, aber nicht wissend, wohin man ging. Das Abenteuer war getrieben von großer Arbeitslust. In Bremen gewann sich Peter Zadek seine forcierte und bis heute dauernde Kraft. Durch Hübner bekam Peter Stein – nach seinen frühen Münchner Geniestreichen – mit „Kabale und Liebe“ und dem berühmt gewordenen „Tasso“ seine klassische Bewährung; der philosophische Brüter Klaus Michael Grüber erschien hier zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne; der brennende Hans Neuenfels offenbarte seine Imaginationskraft. Hans Hollmann, Alfred Kirchner, Hans Kresnik – der sich seinem provozierenden Tanztheater verschrieb - junge Bühnenbildner wie Jürgen Rose, Karl Ernst Herrmann, der später der Schaubühne ihr Gesicht gab, Erich Wonder: All das war Bremer Wuchs.

Kein anderes Theater hat in jenen unruhigen Jahren so viele junge Leute aus der Anonymität in die Beachtung, gar zu Ruhm gebracht. Bruno Ganz gewann gleich mit seiner ersten Rolle als Hamlet sich seine Zukunft; Jutta Lampe, Edith Clever wurden hier zu sich selbst gebracht, Michael König, Margit Carstensen, Rolf Becker, Hannelore Hoger, Vadim Glowna, Werner Rehm.

Theater sind zuallererst Menschenhäuser. Das Bremer Theater war es. In Bremer erlebte man auch wieder, dass das Theater noch immer ein Hauptort ist für unser bildnerisches Denken. Wie oft wurde hier das Bild der Bühne zu einem Inbild in uns selbst. Angefangen von Zadeks „Held Henry“, der Shakespeares Heldenfigur mit den Fußballhelden von heute kopulierte, bis zu den radikalen Vorgängen in „Maß für Maß“, das den Regisseur selbst und auch die Sprache des Theaters veränderte, weil die Körpergebärde nicht mehr Ausdruck des Wortes war, sondern seine Absicht enthüllte. Hübners „Hamlet“ stellte das dunkle Geschehen in helles, gleißendes Licht, Steins Inszenierung des „Tasso“ verwandelte für eine ganze Epoche den dramaturgischen Blick auf die alten Stücke in einen Blick in ihre verborgenen Inhalte. In Fassbinders langsam zelebriertem Goldoni’schen „Kaffeehaus“ spiegelte sich der Wildwestfilm als Abbild unserer Gesellschaft. Mancher, der dabei war, sieht noch vor sich Klaus Michael Grüber, stumm in seiner Sandgrube unter den Regenbogen aus Neonlicht, ein stiller Prospero, und Bernhard Minetti im schon aufgerissenen Haus, das den Abbruch der Hübnerschen Ära unfreiwillig symbolisierte, mit Krapps Tonbändern seiner Vergangenheit nachhorchend. Unter den Erfindungen der Bremer Jahre war die einer neuen Bildersprache nicht die geringste. Steins Schaubühne wurde ihr Erbe. Deren Geschichte ist ohne die Vorgeschichte im Hübnerschen Theater nicht zu denken.

Hart traf diesen Intendanten, als Peter Stein mit seinen ersten Schauspielern ins eigene Leben davonzog. Er schickte Grüber und Kresnik in die Lücke, lockte Wilfried Minks in die Regie.Und wagte auch die Veränderung der Oper mit den Erfahrungen, die man auf der Schaubühne gemacht hatte. Manch einer wünscht heute, dabei gewesen zu sein.

All das in den aufgeregten, sich politisch definierenden sechziger und frühen siebziger Jahren: Hübners Theater war Teil dieses erregten Prozesses, aber es bediente ihn nicht mit Ideologismen, nicht mit Kunstverweigerung, mit direkten politisierenden Aktionen. Hübners Politik bestand im Entwickeln und Durchsetzen von Kunst, das auch eine Übung und Behauptung von Freiheit ist. Im beharrlichen Bremen erfuhr man am Widerstand gegen diese Arbeit, wie die gesellschaftliche Wirkung ästhetischer Prozesse politische Energien mobilisiert. Sie trafen ihn hart, als der Senat trotz des inzwischen erlangten Ruhms den Vertrag nicht verlängerte. Es war Zerstörung eines produktiven Arbeitszusammenhangs.

Als Hübner daraufhin die Freie Volksbühne in Berlin übernahm, veränderten sich nicht sein Impuls, aber die Bedingungen. Ohne festes Ensemble, ohne wechselnden Spielplan war nichts aufzubauen. Es waren noch einmal zwölf Jahre, in harter Konkurrenz zu Lietzaus Schiller-Theater, zur Schaubühne. Doch gelang dem Sammler und Inspirator Hübner immer wieder das Außerordentliche. Grübers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und „Sechs Personen suchen einen Autor“, sein „Faust“ mit Minetti, Zadeks „Ghetto“.Und er gewann Noelte für Berlin zurück, für Gerhart Hauptmann. „Die Ratten“, „Die Wildente“. Da sah er schon, dass auch Bewahrung der Menschenkunst auf dem Theater Zukunftsarbeit sei.

Immer wieder haben die von ihm auf den Weg gebrachten Inszenierungen den Gang des Theaters definiert. In der Geschichte des Theaters zählen die Theatertäter. Sie stiften Form, Bewusstsein und Zukunft. Zu ihnen gehört Kurt Hübner. Die Theatermacher wesen in ihrem Schatten.

Günther Rühle, geb. 1924, leitete von 1985 bis 1989 das Schauspiel Frankfurt und war zuvor Feuilletonchef der „FAZ“. Anfang der neunziger Jahre war Rühle Kulturressortleiter des Tagesspiegel. Er ist u. a. Herausgeber der Werke von Alfred Kerr und Marieluise Fleißer.– Am 12. November erhält Kurt Hübner die Ehrenmitgliedschaft der Akademie der Künste Berlin. In der Matinee am Pariser Platz diskutiert Hübner mit Michael Thalheimer. Traugott Buhre liest ein Dramolett von Moritz Rinke. – Zum 90. Geburtstag erscheint von Dietmar N. Schmidt der reich bebilderte Band „Kurt Hübner – Von der Leidenschaft eines Theatermenschen“ (Henschel Verlag, 288 S., 24,90 Euro).

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