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Kultur: Der Vater in der Zwischenwelt - Zoran Drvenkar löst in hochpoetischer Sprache ein gewichtiges Problem

Alissa ist es nicht kalt, Alissa friert. Kalte Füße, fröstelnder Körper, kühle Hände - ihre Oma ist verblüfft, als sie Alissa berührt, die Mutter verbrüht sich beinahe am Badewasser, in das sich ihre Tochter legt.

Alissa ist es nicht kalt, Alissa friert. Kalte Füße, fröstelnder Körper, kühle Hände - ihre Oma ist verblüfft, als sie Alissa berührt, die Mutter verbrüht sich beinahe am Badewasser, in das sich ihre Tochter legt. In der etwa Zehnjährigen herrscht ein Winter, mit dem sie sich nicht abfinden will. Frieren als Symptom, als der über die Hautoberfläche nach draußen übertragene Aggregatzustand der Seele: Alissa hat einen Verlust erlitten und muss, als sei dieser noch nicht schneidend genug, weitere fürchten. Ihr Vater starb vor ihren Augen bei einem Unfall; ein grausamer, fast lächerlicher Zufall, der alles, alles in "davor" und "danach" einteilt. Ihre Mutter setzt tapfer ihr Weiterleben in die Tat um, doch kein nächtliches Weinen ist zu leise für Alissas Ohren.

Ganz langsam beginnt für die Mutter in der alten Welt ein neues Leben. Es gibt einen neuen Partner, von dem sie ein Kind erwartet: für Alissa Unwägbarkeiten, die in dunklen Momenten zur schieren Bedrohung werden. Das Paradoxon, mit der Mutter in Trauer vereint zu sein und dennoch das Tabu des toten Vaters gemeinsam nur zögerlich bis überhaupt nicht besprechen und damit verarbeiten zu können, findet eine Auflösung, die Generationen übergreift. Alissas Oma und ihr Lebensgefährte fahren mit ihr aufs Land. Damit weisen sie ihr die notwendige Projektionsfläche zu, den Raum für die Suche nach dem Vater. Im Traum spürt sie ihm zunächst vergebens nach. Das leere Zimmer droht ein bleibender Ausdruck des langsamen Verblassens und endgültigen Verlassen-Werdens zu sein. Alissa weiß, dass der Weg zu ihrem Papa zu ihr und durch sie selbst führt und bei aller Unterstützung von außen zuallererst ihre eigene Aufgabe, die Herausforderung ihres jungen Lebens ist.

Orte können Schlüssel zu Personen sein. Das Café, das der besten Freundin der Mutter gehört, die auch eine Vertraute Alissas ist, war der Ausgangspunkt des verheerenden Unfalls. Zuvor galt es als romantischer Fixpunkt in der Ehe der Eltern. Diesen Ort muss Alissa erneut aufsuchen, um Kindern zu begegnen, die sie nachhaltig beeindrucken. Sie driftet kurz in jene Zwischenwelt, in der sie ihren Vater zu treffen sucht, und wird auf ganz andere Weise als erhofft fündig. Sie trifft auf Kinder, die gleichfalls schmerzhafte Verluste erleiden oder jenseits durchschnittlicher Normen leben (müssen). Das Kunststück glückt, das eigene schwere Schicksal an die Seite ebensolcher anderer zu stellen, ohne auch nur eines der beiden zu entwerten oder geringer anzusehen.

Durch das phantastische Element der Traumsequenz wird eine kinderliterarische Tradition neu aufgegriffen: Alissa wird ihr Zustand und seine Verbesserung nicht nur vor Augen geführt, sondern sie hat aktiv Kontakt zu jenen, die ihr endlich das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Was unter ungünstigeren Vorzeichen zu einer mahnenden Beispielerzählung hätte geraten können, erfüllt hier heilende Wirkung und beschert der Protagonistin das notwendige Selbst-Bewusstsein. Alissas Vater ist bei ihr und wird es immer sein - sofern die Tochter es will.

Zoran Drvenkar schildert dies alles geradlinig und klar, mit beeindruckenden, dabei unaufdringlichen Bildern. Er stellt erneut unter Beweis, dass sich poetisch interessiertes Erzählen und direkte Sprache keinesfalls ausschließen. Und er hat, mit wenigen Strichen, aus seiner Geschichte einen Berlin-Roman mit autobiographischen Einsprengseln gemacht. Nach zwei furiosen Paperbacks bei Rotfuchs gibt Zoran Drvenkar nun also sein Hardcover-Debüt im Oetinger-Verlag.

Es ist überflüssig, seine Texte kategorisieren zu wollen. Denen, die darauf bestehen, sei vermeldet: Zoran Drvenkar hat einen leichten Roman mit einem schweren Thema geschrieben. Es ist kein Problembuch, es ist viel mehr ein Lösungsbuch. Oder verhaltener formuliert: Bezogen auf die Form verteilt Drvenkar kleine Einladungen, einen hochpoetischen Text zu erlesen und zu entdecken; inhaltlich unterbreitet er Vorschläge; er macht Angebote, indem er von Binsenweisheiten absieht. Statt "etwas Warmes braucht der Mensch" würde er wohl sagen "etwas Wahres braucht der Mensch". Die Wärme kommt ganz von selbst.Zoran Drvenkar: Der Winter der Kinder oder Alissas Traum. Oetinger, Hamburg 2000. 196 Seiten. 19.80 DM. Ab zehn Jahren.

Lothar Sand

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