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Kultur: Der Wille des Universums

Der Dichter Paulus Böhmer zieht Bilanz

Es gibt Autoren, die erst im Alter so richtig aufdrehen. Paulus Böhmer zum Beispiel, der 1936 geborene „Enzensberger des Unterleibs“ (Christoph Meckel), veröffentlichte schon 1963 einen ersten Gedichtband, wurde dann Walter-Höllerer-Schüler, Günter-Bruno-Fuchs-Kumpan, März-Verlags-Aktivist und zuletzt, von 1985 bis 2002, Leiter des Frankfurter Literaturbüros. Seit seinem 2002-2007 bei Schöffling erschienenen Opus Magnum „Kaddish I-X“ und „Kaddish XI-XXI“ ist er zwar kein Unbekannter mehr – und doch ein Geheimtipp geblieben. Sein Œuvre ist eine Herausforderung an jede ästhetische Konvention: ausschweifend, rauschhaft, weder durch ideologische noch moralische Scheuklappen begrenzt, ein orgiastisch sprudelnder Wortbrunnen, in dem sich Fachsprachen der Wissenschaft mit Geplapper aus Werbung und TV, mit Sex-Argot und Gaunerrotwelsch begegnen, gegenseitig hochschaukeln und begatten in furiosen Crescendi. Bei aller traumhaften Turbulenz ist alles zugleich aber tieftraurig, ja todernst.

Es geht um ein Anschreiben gegen die biologische Uhr. In den drei Langgedichten von „Am Meer. An Land. Bei mir“ bilanziert er ein lebenslanges Aufbegehren gegen die Hinfälligkeit des Seins. Was bliebe Böhmer also anderes übrig, als dieses Sein fortwährend in seinen elementarsten und wandlungsfähigsten Formen (Wasser, Erde, pulsierendes Ich) zu preisen? Man soll sich nicht täuschen: Was wie postmodernes Pasticcio und Spiel aussieht, zeugt von der Überlegenheit des Lyrikers über sein Material. Böhmer verfügt in seiner Poesie souverän, enzyklopädisch und diszipliniert über alle Aspekte des Lebendigen, von der Mikrobe bis zur Galaxie, vom Abschaum bis zum Göttlichen. Seine Poesie ist als ins Gedicht eingeflossene Lebenssumme existentiell verbürgt.

Dafür ist die auf dem Umschlag – ein Cover, wie es noch keines gegeben hat – in ihrer ganzen physischen Schutzlosigkeit fotografierte Physiognomie des Autors überdeutlicher Beweis. Böhmers Langgedichte blinken wie Leuchtfeuer über der Brandung auf- und ab, um uns auf ihrer Reise ans Ende der Nacht plötzlich mit sonnenklaren Zusammenhängen zu durchschauern: „Der Wille des Universums umfasst die Erde / wie der Rock die Hüften des Mädchens“. Jan Röhnert

Paulus Böhmer: Am Meer. An Land. Bei mir. Gedichte. Verlag Peter Engstler 2010. 148 Seiten, 29 €.

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