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Kultur: Des Trudels Kern

Fünf Personen suchen das Gespräch: Pascal Dusapins „Faustus“ an der Lindenoper uraufgeführt

Am Ende des Abends jubelt das ganze Haus und bricht nicht in die für Berlin premierenübliche Mischung aus Niedergeschrei und frenetischem Applaus aus. Die Begeisterung des Publikums für „Faustus, the Last Night“, Pascal Dusapins fünfte Oper, mag vor allem damit zusammenhängen, dass Dusapin es wagt, die ganz große Tradition anzurufen und eine ureuropäische Geschichte von neuem zu erzählen. Der französische Komponist, der sich für dieses Auftragswerk der Berliner Staatsoper das englische, mitunter auch von lateinischen Phrasen durchsetzte Libretto selbst zusammengestellt hat, führt den Faustus vor, doch nicht den echten, den um 1450 geborenen Dr. Georg Faust aus Knittlingen, auch nicht jenen Goethes, sondern eher schon den zuletzt tatsächlich gescheiterten des Christopher Marlowe von 1592. Wobei sich das nicht viel tut, gehört der Faust doch zu den meistbearbeiteten Figuren in der Literatur der Neuzeit.

Dusapin also führt den Faust vor. In seiner letzten Nacht. In elf Nummern. Mit seinem fast lächerlichen Sich-Quälen, den vielen Fragen an Gott, das All, die Sterne, das Leben, das Ich und den Sinn von allem sowieso. Meist hält Faust Zwiegespräche mit Mephistopheles, der sich zwar lustig macht über die Fragerei und oft genug eine Antwort verweigert, andererseits aber schon Schwierigkeiten bekommt, wenn er nur den Namen Gottes aussprechen soll. Dann würgt und stottert er. „I would prefer not to“, „lieber nicht“, antwortet Mephisto, mit Worten, die Dusapin der Melville’schen Figur des Bartleby entlehnt hat.

Weil es in dieser letzten Nacht des Faustus um nichts weniger als das Sein und die Zeit geht, hocken Faust und Mephisto in der Lindenoper auf den Zeigern eines riesigen, weiß angeleuchteten Ziffernblatts (Bühnenbild: Elmgreen&Dragset), beide schwarz gekleidet und einander zum Verwechseln ähnlich. An Georg Nigls lyrischem Bariton, seinen allzu menschlichen, wenn auch törichten Fragen wärmt man sich gern auf. Und andererseits gönnt man ihm Hanno Müller-Brachmanns kernig-spottenden Mephisto. Zu den beiden gesellt sich nach und nach eine von Dusapin ausgedachte Figuren-Trias: ein erschöpft ruhender Engel, der bald aufsteht, um sich die zarten Federn auszurupfen (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer), und dem der Komponist aus Gründen, die wohl nur er selber kennt oder aus Überlegungen, deren Aussagekraft nachgerade übermenschlich banal wäre, ausgedehnt zwischen dem zweigestrichenen h und dem dreigestrichenen es hin- und herflackern lässt. Caroline Stein entledigt sich dieser Aufgabe, ohne dass die Partie ihr gut zu Gesicht stehen würde, ja könnte.

Hinzu tritt auch der Dickwanst Sly, den Robert Wörle mit hell verplappertem Tenor gibt, und eine dritte, ebenfalls schwarz gekleidete Figur (Jaco Huijpen), die Togod heißt. So wie in Becketts „Godot“, wo nach dem Sinn höchstens aus Langeweile und im Grunde sowieso nicht mehr gefragt wird. Doch Togod, das ist natürlich auch „To God“, „zu Gott“. Damit umreißt Dusapins Oper Himmel und Erde, gleich mehrere Literaturen und fast sechshundert Jahre Geistesgeschichte.

Und es kann losgehen – fünf Personen suchen das Gespräch. Oder, anders: Diese Oper hat keine Handlung. Denn Bogen und narrativer Impuls von „Faustus, the Last Night“ erschließen sich nur mittelbar, nur aus der Verdichtung der Diskussion zum aggressiven Durcheinander und den fünf akkumulierten Meinungen und Visionen in den letzten Szenen, auch der kalten Beruhigung ganz am Ende. „There is nothing“, wird Togod zuletzt sprechen, „da ist nichts“.

Der Rest sind Nebelwolken von oben rechts, ist ein Lichtgewitter überm Ziffernblatt aus kühlrosa, feuerorange, tiefblau und eisigem Grauweiß (Licht: Sven Hogrefe), sind einige Inszenierungsflocken, mit denen Regisseur Peter Mussbach den Ernst der Lage konterkariert. Mephisto und Togod erscheinen in Zauberkaninchenkostümen, das Buch des Lebens wird in einer Tüte herbeigetragen, der Sinn des Lebens verpufft wie die Luft aus dem weißen Ballon, in den Sly am Ende hineinpiekst.

Und der Rest ist, natürlich, Dusapins Musik. Denn dem narzisstischen Kreisen der Gespräche um die immergleichen Fragen, der Eitelkeit, mit der Faust zu fragen beginnt, obwohl er von Anfang verdammt und alles schon längst verloren gegeben ist – all dem stellt Dusapin Klänge gegenüber, die die Leere in ihrer Schönheit stets verneinen. Auf sonderbare, fast enttäuschende Weise trifft sich in seiner Oper das sinnfrei Verlorene mit dem sinnhaft Geschlossenen. Sein Faust mag vergessen und wieder vergessen, Dusapin aber räumt auf, schafft Ordnung, treibt eine Gesprächsdramaturgie in das prätendierte Chaos, komponiert eine folgerichtige, melodiöse und nachgerade französisch flächige Musik. Er montiert Duette aus Gesprochenem und Gesungenen. Bis auf kleine Spielereien, wie sie sich etwa in Mephistos Stottern zeigen, lässt er den Sängern ihre Worte und Melodien und fürchtet sich auch nicht vor Kantilenen.

Die Staatskapelle unter Michael Boder zerbirst in harten Crescendi und stellt den „Tell me!“ – „Sag mir!“-Fragen aggressive Explosionen nach. Gleichzeitig breitet sie zarte Streichersphärenklänge aus, lässt die Bassgruppen in ruhigen Halbtonflächen pendeln und schafft genügend Ruhe und Zeit für Dusapins kammermusikalisch intime Zwischenspiele. Bei soviel Wagnis zu klanglicher Schönheit und durchsichtiger Dramaturgie, bei solchem Benimm, solcher Kontrolle über einen ausufernden Stoff und einem so deutlichen Bekenntnis zu Europa muss das Haus einfach in Jubel ausbrechen.

Wieder am 24. und 28. Januar sowie am 4. und 12. Februar

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