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© DSO / Mathias Bothor

Deutsches Symphonie-Orchester: Das verflixte erste Jahr

Mut und Unmut: Der Dirigent Ingo Metzmacher und seine Auftaktsaison beim Berliner DSO.

Ingo Metzmacher neigt dazu, seine Mitmenschen zu überschätzen. Ein sympathischer Charakterzug – der den Betreffenden allerdings in Bedrängnis bringen kann. Der 1957 geborene Hannoveraner wuchs in einem weltoffen-bildungsbürgerlichen Elternhaus auf, als zweites Kind des Cellisten Rudolf Metzmacher. Klassik, vor allem Kammermusik, war der Soundtrack seiner Jugend, der Vater liebte die Alten Meister. Folglich interessierte sich der Sohn für das Neue.

1981 heuerte Metzmacher beim Ensemble Modern an, stieß zum legendären Avantgarde-Team der Frankfurter Oper um Michael Gielen, übernahm 1997 die Stelle als Generalmusikdirektor der Hamburgischen Oper und stellte seine Silvesterkonzerte unter das Motto „Who is afraid of 20th century music?“. Als er im Herbst 2007 Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin wurde, war er wieder für eine Überraschung gut: Seine erste Saison widmete er dem Thema „Das Deutsche in der Musik“.

Lange schon beschäftigte ihn die Frage, ob sich bei Bach, Beethoven, Brahms oder Busoni ein klingendes Nationalidiom ausmachen lässt. Mit der Charakterisierung deutscher Musik als „schwermütig und tiefsinnig“ wollte er sich nie zufrieden geben: „Wenn ich eine wirkliche Vorliebe habe, dann sind das die hellen, die lichten Klänge. Transparenz, französische Clarté, das spricht mich mehr an als das Undurchschaubar-Düstere.“ Deshalb dirigiert er zum Saisonabschluss des DSO am Freitag in der Philharmonie Werke, die sich von Shakespeares „Sommernachtstraum“ zu musikalischer Leichtigkeit animieren ließen: Webers „Oberon“-Ouvertüre, Mendelssohns Schauspielmusik zum „Sommernachtstraum“ und Hans Werner Henzes 8. Sinfonie.

Ingo Metzmacher ist ein Aufklärer im klassischen Sinne. Aber er sträubt sich auch nicht dagegen, dass zwei Seelen, ach, in seiner Brust wohnen. So wählte er für sein Nationalfeiertagskonzert am 3. Oktober 2007 bewusst ein erzkonservatives Werk, Hans Pfitzners 1921 entstandene Kantate „Von deutscher Seele“. Eine Provokation, hatte sich der Komponist doch den Nazis geradezu angedient. Eine Klarstellung aber auch, denn das Stück verherrlicht keineswegs den arischen Herrenmenschen, sondern versucht, mit Versen des Romantikers Eichendorff die Tradition gegen die Moderne zu verteidigen.

Mit einem breit gefächerten Informationsangebot vom analytisch-akademischen Saison-Begleitbuch bis zum Videoblog auf der DSO-Website versuchte Metzmacher, die Zuhörer auf sein Herzensthema hinzuführen – und erntete doch nur eine politische Reflexdebatte. Eine Riesenenttäuschung für einen, dessen Credo lautet: „Wenn ich eine Musik höre, die mich anspricht, die in mich hineinfällt wie ein Licht, folge ich ihr, suche nach mehr.“ Metzmacher erforscht Zusammenhänge. Viele Klassikhörer suchen in der Musik dagegen vor allem das Vertraute und verspüren daher wenig Lust, dem Dirigenten bei seinen Erkundungen zu folgen. Wie gesagt, Ingo Metzmacher neigt dazu, seine Mitmenschen sehr hoch einzuschätzen.

Auch im eigenen Orchester hatte er es anfangs nicht leicht. Schon beim Saisoneröffnungsmarathon mit fünf Projekten begannen die Musiker zu murren. Der neue Chef probte ihnen nicht präzise genug. Sechs Jahre lang hatte Metzmachers Vorgänger Kent Nagano ihnen immer ganz genau gesagt, was zu tun sei. Für seine Detailarbeit, sein stets mit größter Probenakribie aufgebautes Klangbild wurde der japanisch-amerikanische Maestro in Berlin verehrt. Metzmacher geht es zuallererst um die große Linie, um das Gesamtbild, um eine stringente Dramaturgie des Abends. Folglich wünscht er sich, frei nach Immanuel Kant, den Austritt des Musikers aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Man kann es den Claudio-Abbado-Effekt nennen: Auch für den Italiener bedeutet Musizieren „Aufeinander Hören“. Er animiert die Musiker, den Kollegen Beachtung zu schenken, sich nicht nur die eigene Stimme, sondern stets die ganze Partitur bewusst zu machen. Eine solche Probenphilosophie irritierte selbst die Berliner Philharmoniker, das wohl selbstständigste Orchester der Welt.

Auch Ingo Metzmacher versteht sich als koordinierender und weniger als imperativ interpretierender Dirigent. Für das Publikum jedenfalls wurden die internen Probleme nicht ohrenfällig: Das DSO beeindruckte in dieser Saison mit seinem brillant-glasklaren, zeitgenössischen Sound. Und Metzmachers Auftritte bleiben bestens in Erinnerung: angefangen mit dem Fest zum 60. Orchesterjubiläum, bei dem er jedem seiner Vorgänger mit einem Stück Reverenz erwies, über Mahlers Vierte Sinfonie bis zum casual concert mit Messiaens „Turangalila“-Sinfonie, bei dem ein junges, neugieriges Publikum erst Metzmachers erhellender Werkeinführung und dann einer lustvollen, lebenstollen Klangfarbenorgie lauschte.

Hinter den Kulissen hat er derweil einen schweren Stand, vor allem wegen zweier strategischer Fehler. Er reagierte spät auf die wachsende Unzufriedenheit im Orchester, sodass die Musiker im Frühjahr begannen, auf eigene Faust nach Kandidaten für einen Dirigentenputsch zu suchen. Vor drei Wochen vermochte Metzmacher zwar die Gemüter dank einer bewegenden Rede bei einer Vollversammlung zu beruhigen, doch Ruhe ist damit noch nicht eingekehrt.

Der Dirigent hat nur einen Drei-Jahres-Vertrag unterzeichnet, weil er austesten wollte, ob er mit der heiklen Rechtskonstruktion des DSO zurechtkommen würde. Das Orchester gehört ebenso wie der Rundfunkchor Berlin, das RSB und der RIAS Kammerchor zur ROC-GmbH, einer vom Deutschlandradio, dem Bund, dem Land Berlin und dem RBB getragenen Musikholding, in der ständig um Geld und Machtansprüche gerungen wird.

Orchestermusiker erwarten, dass ihr Chef nicht nur gute Konzerte dirigiert, sondern auch finanzielle Vorteile für sie herausholt. Kent Nagano brauchte drei höchst erfolgreiche Spielzeiten, um dem DSO einen Sonderzuschuss von jährlich einer Million Euro zu erkämpfen. Weil der mit seinem Weggang wieder gestrichen wurde, schlingert das Orchester jetzt an der Defizitgrenze. Allein um die 114 Planstellen besetzen zu können, wären 10,4 Millionen Euro nötig, der staatliche Zuschuss beträgt aber nur 9,8 Millionen Euro.

Gerade ist es Ingo Metzmacher gelungen, Tariferhöhungen für alle vier Ensembles 2009 durch eine einmalige Sonderzulage der ROC-Gesellschafter von 1,5 Millionen Euro zu sichern. Fragt sich nur, ob das seinen Musikern reicht. Da im Klassik-Business mit einer Vorlaufzeit von mindestens zwei Jahren geplant wird, muss bereits in den kommenden Monaten entschieden werden, ob Metzmacher über den Sommer 2010 hinaus beim DSO bleiben soll.

Der Dirigent blickt derweil nach vorne. Für 2008/09 haben er und sein Orchesterdirektor Alexander Steinbeis die mit Abstand interessanteste Programmplanung aller Hauptstadtorchester vorgelegt: Es kreist um das Jahr 1909, als Arnold Schönberg das traditionelle Tonartensystem sprengte und die Musik in die anarchische Freiheit der Atonalität entließ. Ausgerechnet Schönberg, den Angstgegner aller Konzertbesucher, in den Mittelpunkt zu stellen, aber verlangt Mut. Und ein mitdenkendes Publikum. Sehr differenziert zeigt das Programm mit Werken von der Romantik bis zur Jahrhundertwende die Entwicklungslinien auf, die schließlich zum Kollaps der vertrauten Klangsprache führten.

Schönberg komponierte zunächst systemkonform, schuf berauschende Klanggebilde, bis er spürte, dass er an einem Endpunkt angelangt war. Wenn er künstlerisch nicht auf der Stelle treten wollte, musste er den harten, schmerzlichen Schnitt wagen. So denkt auch Ingo Metzmacher, so fordert er seine Mitmenschen heraus: Ganz oder gar nicht.

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