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Kultur: Deutsches Theater Berlin: Kriegenburgs Hauptmann: "Vor Sonnenaufgang"

Ein Paar, aus dem kein Paar werden kann. "Geh nicht fort", fleht die junge Frau, der Mann aber lässt sich nicht halten: "Leben, kämpfen - weiter!

Ein Paar, aus dem kein Paar werden kann. "Geh nicht fort", fleht die junge Frau, der Mann aber lässt sich nicht halten: "Leben, kämpfen - weiter!" Für Helene Krause, die Tochter aus oberschlesischem Bauernhaus, wird die Liebe zu Dr. Alfred Loth, einem Weltverbesserer, der von der Gründung einer sozialreformerischen Kommune in Amerika träumt, tödlich enden. Als Loth von dem Landgut der Krauses fluchtartig abreist, nachdem er erkannt hat, dass diese Familie in ihrem Neureichtum ertrinkt, in Alkoholismus und Inzest verkommt, nimmt sich Helene das Leben. In Gerhart Hauptmanns Stück hört sie ihren besoffenen Vater grölen: "Biin iich nee a hibscher Moan?", reißt einen Hirschfänger von der Wand und verschwindet damit im Nebenzimmer. In Andreas Kriegenburgs Inszenierung von "Vor Sonnenaufgang" greift sie, statt zum Messer, zur Schnapsflasche, leert sie, macht sich an den Vater heran, zieht ihr Kleid aus, dreht es zum Strang und lässt sich, im Techtelmechtel mit dem Alten, damit erdrosseln.

Eine Eigenwilligkeit des Regisseurs, die nicht die einzige an diesem Abend im Deutschen Theater Berlin ist. Der 36-jährige Kriegenburg geht mit dem "sozialen Drama" des 26-jährigen Hauptmann, das 1889 bei der Uraufführung im Berliner Lessingtheater auf heftige Ablehnung konservativer Kreise stieß, jedoch die Anerkennung des Kritikers Theodor Fontane fand, sehr frei um. Er hat das Dienstpersonal des Krauseschen Landguts ebenso ausgedünnt wie die Dialoge des Gastes mit den Gastgebern: sowohl die Auseinandersetzungen Loths mit seinem Jugendfreund Hoffmann, der als Schwiegersohn der Krauses das Heft an sich gerissen hat, als auch die Gespräche mit Helene, die als einzige der Sippe ein anständiger Mensch geblieben ist. Eingriffe, die tolerabel sind. Fragwürdig dagegen wird es, wenn Hauptmanns Stück fremde Texte hinzugefügt werden - zumeist ohne jeglichen Nachweis. Die einzige Ausnahme hiervon, im Programmheft abgedruckt, bildet ein Bericht von Franz Jung über eine eigenartige Krankheit der Eskimos, das von "Furcht vor der Zukunft" verursachte "Piblokto": Miele, Magd des Hauses, trägt ihn zu Beginn der Aufführung vor. Zu deren Ende wiederum erhält Frau Spiller, Gesellschafterin der Gutsherrin, das Wort: zu einem zwanghaft, wie in Trance, geplapperten Monolog, der, "das Gespräch suchend", in der Feststellung "Meine Hände sind stumm" versandet.

Den Kommunikationsschwierigkeiten, die sich in solch anonymer Autorschaft spiegeln, entsprechen in groteske Körpersprache übersetzte Verhaltensstörungen: etwa der watschelnde Gang, mit dem Katrin Klein als Miele ihren Haushaltspflichten nachgeht, oder die alberne Art, mit der sich Michael Schweighöfer als Arzt, für Hoffmanns schwangere Frau Rezepte schreibend, die Beine abstrampelt. Als düsteres Abbild der Kopfschmerzen, die sich Loth angesichts der Zustände im Hause Krause macht, mag die Szene gelten, in der Miele ein Baby wie eine Puppe an Fäden hereinführt und dem Gast ein Messer an die Stirn setzt, um ihm das Kopfweh blutig herauszuschneiden.

Von Andreas Kriegenburg war und ist nicht zu erwarten, dass er Hauptmanns naturalistisches Milieu auspinselt, wie dies am selben Theater Thomas Langhoff beim "Biberpelz" getan hat oder anderswo Peter Stein oder Luc Bondy mit feinem Strich tun würden. Schon Einar Schleef freilich hat 1985 in Frankfurt am Main (und ein Jahr darauf beim Berliner Theatertreffen) bewiesen, dass auch der kräftigste Prankenhieb den Stoff nicht beschädigen muss. Und so ist jetzt auch Kriegenburg ein sich gegen anfängliche Widerstände durchsetzender Stilwille zu bescheinigen. Johanna Pfau hat als Bühnenbild ein Geschachtel aus hohen Wänden geschaffen, glühend in Rot und Blau, errichtet auf einem Boden, der mit Torfmull bedeckt ist. Die Materie erinnert an die Kohle, mit deren Förderung die Familie ihren Reichtum begründet hat - auf Kosten der unter Tage schuftenden Bergleute, deren Situation der Sozialreformer Loth zu recherchieren beabsichtigt, zum Missfallen von Freund Hoffmann, der seine alten Ideale längst an den Kapitalismus verraten hat.

Der Schauspieler Udo Kroschwald ist, schon von seiner statiösen Erscheinung her, passgenau der Richtige für die Rolle des Emporkömmlings: im schlesischen Dorf ein kleiner Napoleon, über dessen gewölbter Brust ein wächsern bleiches Gesicht leuchtet, zwischen den Zähnen eine qualmende Zigarre. Der Diktator, als Bonhomme getarnt, kann sich einmal, überraschenderweise, auch als leidender Mensch zeigen, wenn er in Sorge um seine Frau, die werdende Mutter, von der Säuferin wider alle Erfahrung behauptet: "Sie ist nicht krank!" - ein Verzweiflungsausbruch, der sich übrigens in Hauptmanns Text nicht finden lässt. Gegenüber dem kompakten Kroschwald ist Bernd Stempel als Loth ein gleichfalls schon äußerlich prägnanter Kontrapart, ein lang aufgeschossener Gliedermann, voller Kraft, die sich gelegentlich in nervösen Zuckungen verausgabt. Seine Devise "Leben, kämpfen - weiter!" presst er mit rauer Stimme hervor. Ihren Wunsch "Geh nicht fort" hat Claudia Geislers Helene nach ihrer ersten Begegnung mit Loth noch halblaut vor sich hingesprochen, jetzt aber in dringlichem Ton als Überlebensbitte leitmotivisch wiederholt, eine schmale, blasse Person, die doch, dem Geliebten ähnlich, mitunter in unerwarteter Vitalität eckig aus sich herausgeht. Untermalt von einer lebenslustigen, todtraurigen Rummelplatzmusik (Laurent Simonetti), macht der Abend am Ende dank dem schauspielerischen Einsatz guten Effekt.

PS: Dass in Loth mit seiner Vergottung des gesunden Bluts ein Rassist schlummert, ein Präfaschist, wissen wir heute besser, als der Autor ahnen konnte. "Mein Kampf, mein Kampf, mein Kampf ...", lässt der Regisseur den Fanatiker sagen, doppelt und dreifach - überdeutlich. Aber hier soll Kriegenburg gern jedes Mittel zum genaueren Verständnis des Stücks recht sein.

Günther Grack

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