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Kultur: Deutsches Theater: Die Menschenwürde des Staatsfeindes

Eine kalte Welt, erhellt nur von einer Neonröhre. Über einem Spiegel, einem Waschbecken, einem Plastikeimer angebracht, wirft die Leuchte ihr bläuliches Licht auf eine junge Frau, die sich Hände und Arme wäscht, sich säubert von dem Sand, mit dem sie ihrem Bruder ein notdürftiges Grab bereitet hat.

Eine kalte Welt, erhellt nur von einer Neonröhre. Über einem Spiegel, einem Waschbecken, einem Plastikeimer angebracht, wirft die Leuchte ihr bläuliches Licht auf eine junge Frau, die sich Hände und Arme wäscht, sich säubert von dem Sand, mit dem sie ihrem Bruder ein notdürftiges Grab bereitet hat. Sie nimmt die Ohrringe ab, schmeißt sie in den Abfallbehälter, streift sich das Kleid über den Kopf. "Seht mich, ihr Bürger meines Vaterlands, den letzten Weg gehen, das letzte Licht der Sonne schauen." Der bläuliche Neonschein, matt auf ihren nackten Schultern liegend, lässt hinten im Halbdunkel eine Handvoll Leute erkennen; sie sitzen auf Stühlen aus weißem Kunststoff, wie auch wir sie auf unseren Balkonen und Terrassen verwenden, und sie tragen Anziehsachen von derselben Mode wie wir.

Die "Antigone" des Sophokles, vor 2443 Jahren in Athen uraufgeführt, spielt in den Kammerspielen des Berliner Deutschen Theaters nicht in einem archaisch fernen Griechenland vor dem Palast des Herrschers von Theben, sondern irgendwo hier und heute (Bühne: Sascha Gross, Kostüme: Marion Münch). An die Herkunft des Stücks erinnern nur ein paar Torsi einer Kriegerfigur; ein Rumpf, ein Arm, ein geborstener Schild liegen in einem Interieur herum, das, klinisch steril abgeschlossen, in einem Krankenhaus ebenso vorstellbar wäre wie in einer Haftanstalt. "O Grab, o Brautgemach, o unterirdische Behausung" - die junge Frau, die jetzt auf den harten PVC-Boden niedergegangen ist und sich in ihre tiefe Verzweiflung hineinkniet, sie lehnt sich gegen eine Todesstrafe auf, die sie, wie jeder Mensch weiß oder wissen sollte, nicht verdient hat. Ein Gebot der Menschlichkeit, ein zeitlos gültiges, ist ihr wichtiger gewesen als die Willkür, mit der die Obrigkeit es außer Kraft setzen wollte: Antigone hat gegen den Befehl des Königs Kreon verstoßen, die Leiche ihres als Staatsfeind gefallenen Bruders zu schänden, nämlich Vögeln und Hunden zum Fraß zu überlassen. Kreon weiß, dass er mit dieser Verletzung der Menschenwürde Unrecht getan hat, will es aber nicht zugeben - um so mehr redet er sich hinein: in seinen Reden an die Nation, an die Bürger von Theben, an den so genannten Chor.

Der Chor der griechischen Tragödie ist ein konstitutives Element des Genres, der Repräsentant der Gesellschaft, ein Meinungs- und Stimmungsspiegel der politischen Situation, als Pendant zu den Protagonisten also von größter Bedeutung. Um so problematischer wirkt die Art, in der die zweite Inszenierung der neuen Berliner Bernd-Wilms-Intendanz mit diesem Instrument umgeht: Peter Wittenberg lässt den Chor, gleichsam nebenher, vom Ensemble der Protagonisten vertreten. Eine Sparmaßnahme? Ein tieferer Gedanke für diese Lösung teilt sich nicht mit. Alle acht Darsteller, von Kreon und seiner Familie über den Seher Teiresias bis hin zu Wächtern und Boten, sind gefordert, ständig auf der Bühne zu sein; sie treten aus den Rollen ins Abseits der Sitzreihen, sprechen mit abwechselnd führenden Stimmen im Chor, fügen sich aus dem Kollektiv wieder in ihre Rollen ein.

Keine Frage, sie machen das technisch perfekt, der Effekt aber ist fragwürdig. Denn die Umrisse der Individuen verschwimmen, zum Beispiel, wenn Dieter Mann als Kreon von Antigone und ihrer Schwester Ismene höhnisch sagt, sie hätten beide den Verstand verloren, die eine soeben, die andere seit sie geboren: Der Schauspieler David Rott grient da amüsiert - in seiner Eigenschaft als Chormitglied? Oder als Darsteller von Kreons Sohn Haymon, verlobt mit Antigone? Ein weiteres Manko der Dauerpräsenz aller Personen: eine Minderung der Krimi-Spannung. Wenn wir Antigone ebenso wie Haymon im Chor herumsitzen sehen, nimmt unsere Phantasie Schaden, sollte uns unsere Vorstellungskraft doch eigentlich ausmalen, wie das Paar draußen in seinem Höhlenverlies selbstmörderisch zu Grunde geht.

Inka Friedrich gibt mit ihrer kraftvollen Antigone ein rundum gelungenes Debüt am Deutschen Theater; den furchtsamen Einwand Ismenes (Beata Lehmann): "Wir sind Frauen" wischt sie mit einem leisen Lächeln weg. Eine zweite starke Frau, freilich maskulin maskiert, ist Jutta Wachowiak als blinder Seher Teiresias. Unter dem Mantel eine Gummischürze zum Schutz gegen das spritzende Blut ihrer Tieropfer, so tritt sie hoch erhobenen Hauptes dem hybriden Machthaber entgegen und fordert derart furios Umkehr vom falschen Weg, dass Dieter Manns Kreon schließlich ganz schief dasteht. Das letzte Wort hat Jutta Wachowiak als Chormitglied: "Große Wunden lehren noch Greise die Einsicht" - eine Behauptung, die sie als Frage im Raum stehen lässt.

Günther Grack

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