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Kultur: Die „asiatische“ Tat

Die höhere Moral: Heute vor 20 Jahren begann der Historikerstreit mit einem Aufsatz Ernst Noltes

Heute vor zwanzig Jahren erschien in der „FAZ“ ein Artikel, der für das westdeutsche Selbstbild folgenreich werden sollte. Unabhängig davon, dass bald die Mauer fiel, weitete sich das westdeutsche Selbstverständnis überwiegend zur gesamtdeutschen political correctness. Es geht um jene ausgreifende Kontroverse, die alsbald den Titel „Historikerstreit“ erhielt.

Der FU-Professor Ernst Nolte – heute 83-jähriger Emeritus – gab seinem Artikel den Titel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“. Zunächst bewegte sich Nolte im Rahmen dessen, was man vernünftigerweise über das „Dritte Reich“ zu sagen hatte: „Mehr noch als alles andere trug indessen die Erinnerung an die ,Endlösung‘ zum Nichtvergehen der Vergangenheit bei, denn die Ungeheuerlichkeit der fabrikmäßigen Vernichtung von Millionen Menschen musste umso unfassbarer werden, je mehr die Bundesrepublik Deutschland durch ihre Gesetzgebung sich der Vorhut unter den humanitären Staaten zugesellte.“ Durch ihre Gesetzgebung – das verdient hervorgehoben zu werden, denn von diesem Wort zum Habermas’schen oder besser gesagt von Jürgen Habermas popularisierten Begriff des „Verfassungspatriotismus“ ist es nicht weit.

Dann aber stellte Nolte eine bis dahin ungeheuerliche These auf: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ,asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potenzielle oder wirkliche Opfer einer ,asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ,Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ,Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ,Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“

Das waren Fragen, die ein westdeutscher Historiker 1986 nicht stellen durfte. Ernst Nolte war fortan eine wissenschaftliche Unperson; er, der doch mit dem „Faschismus in seiner Epoche“ 1963 das bis heute unübertroffene Standardwerk über die rechtsradikalen Regimes der Zwischenkriegszeit geliefert hatte und 1967 zum selbstverständlichen Herausgeber des führenden Sammelbandes „Theorien über den Faschismus“ berufen worden war.

Jürgen Habermas war es, der einen Monat später in der „Zeit“ unter dem griffigen Titel „Eine Art Schadensabwicklung“ die „apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“ geißelte. Nolte kommt darin nur neben anderen vor, wenn auch besonders schlecht weg. Heute erschrickt man angesichts der Leichthändigkeit, mit der Habermas als „Vertreibung der Kulaken“ verniedlicht, was in der Tat millionenfacher Mord war, und sich damit ebenjener Apologetik schuldig machte, die er seinen Kontrahenten vorwarf. Im Kern ging es ihm um etwas anderes: um die Fundierung der Bundesrepublik auf die Lehre von Auschwitz. „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an Verfassungsprinzipien hat sich in der Kulturnation der Deutschen leider erst nach – und durch – Auschwitz bilden können.“

„Durch“? An solchen – unausgesprochenen – telos des NS-Völkermordes durfte, nach Habermas, nicht gerüttelt werden. „Die moralische Katastrophe als moralische Katharsis?“, hielt denn auch Jürgen Kocka dem Sozialphilosophen Habermas entgegen. Nolte indessen wehrte sich gegen diese Vermengung von Wissenschaft und Moralismus. Er habe die richtigen Fragen gestellt, nur falsch beantwortet, wird ihm heute, mit der Milde des zeitlichen Abstands, bescheinigt. Das konnte man allerdings bereits damals sehen. Denn spätestens mit dem millionenfachen Massentöten des Ersten Weltkriegs war jedermann bewusst, dass die neuen, hochtechnisierten Waffen zur völligen Entpersönlichung des Tötens führten – und damit genau jene „Industrialisierung“ des Massenmordes ermöglichten, die man später allein den NS-Vernichtungslagern zusprechen wollte. Dass man indessen damals nicht einmal die Fragen stellen durfte, macht den Historikerstreit zu einem geradezu modellhaften Vorgang. Es ging um die Deutungshoheit über Geschichte. Und diese Geschichte, so wollte es die erdrückende Übermacht von Noltes Kritikern, sollte sich aus deutscher Sicht auf das NS-Regime als den Endpunkt einer nationalen deutschen Geschichte verengen.

Wie wenig wollten Noltes Gegner hingegen von den Schrecknissen des Bolschewismus wissen! Das eben warf Nolte seiner Zunft vor, dass sie die entsprechende Literatur der Zwischenkriegszeit nicht zur Kenntnis genommen habe, in denen Stalins Terror bereits ausführlich dargestellt worden war. Kein Wunder, dass mancher der seinerzeitigen Moralwächter unterdessen kleinlaut einräumen musste, sich die Kenntnisse über den GULag und seine Opfer – eben die „asiatische Tat“ – erst nachträglich angelesen zu haben.

Vergleichen bedeutet immer relativieren. Es bedeutet nicht verharmlosen. Aber all die standardisierten Floskeln von der „Einmaligkeit“ des NS-Völkermordes suchen zu sichern, was längst obsolet ist: dass die Verbrechen der Nazis einzig dastünden. Sie tun es nicht. Es gab Stalin, es gab Mao, und es gab, gar nicht so lange vor dem Historikerstreit, Pol Pot. Gewiss war Noltes kausale Verknüpfung auch damals schon erkennbar falsch, allein schon, weil Hitlers tief verwurzelter Judenhass älter war als irgendeine bolschewistische Revolution und im antisemitischen Milieu des Wiener Fin-de-siècle wurzelt. Dass aber die Nazis den mörderischen russischen Bürgerkrieg vor Augen hatten und Kenntnis besaßen von den Ungeheuerlichkeiten, die sich im „Großen Terror“ Stalins 1936/38 ereigneten, kann ernstlich nicht bezweifelt werden. Es ist diese Loslösung von jeder noch so geringen Humanität, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europas Diktaturen so furchtbar macht. Die Fragen über die ideologischen Trennlinien hinweg gestellt zu haben, war Noltes Verdienst; die Entrüstung, die ihm entgegenschlug, nur das Versagen einer Geschichtswissenschaft, die im Dienst höherer Moralität ihre Aufgabe vergaß: nämlich Fragen zu stellen, die an das Undenkbare rühren, um eben diesem Undenkbaren auf die Spur zu kommen.

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