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Kultur: Die aus der Hölle kommen Filmfest Venedig: Griechischer Familienhorror von Alexandros Avranas

Vor dem Palazzo del Cinema wartet die glühende Sonne, auf der Leinwand breitet sich Finsternis aus. Draußen das Paradies, drinnen die Hölle, hier die Leichtigkeit des Strandlebens, dort die Tragik der Existenz: Der Kontrast gehört zu den Konstanten der großen Filmkunstfestivals von Venedig und Cannes.

Vor dem Palazzo del Cinema wartet die glühende Sonne, auf der Leinwand breitet sich Finsternis aus. Draußen das Paradies, drinnen die Hölle, hier die Leichtigkeit des Strandlebens, dort die Tragik der Existenz: Der Kontrast gehört zu den Konstanten der großen Filmkunstfestivals von Venedig und Cannes. Das ist auch diesmal am Lido nicht anders.

Irakkrieg, Nahost, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Eifersucht, Gier, Missbrauch, Zwangsprostitution – kleine Auswahl aus den Wettbewerbs-Filmstoffen der letzten Tage. Scarlett Johansson kann man da nur zu gut verstehen, wenn sie in Jonathan Glazers „Under the Skin“ als Alien mit einem Lieferwagen durch Schottland streunt und das Treiben der Erdbewohner mit wachsendem Befremden zur Kenntnis nimmt. Herzlichkeit, Menschlichkeit? Fehlanzeige. Jeder ist sich selbst der Nächste, die Typen machen sie alle an, also lockt sie die Männer in ein schwarzes gallertartiges Gewässer, das diese allmählich (und schmerzfrei!) zu hauchfeiner Gaze zersetzt.

Schöne Idee: ein Alien als Racheengel, der sich den Körper von Scarlett Johansson ausleiht. Das Experimental-Science-Fiction-Drama wurde ausgebuht in Venedig. Aber zum Skandal taugt es nicht, variiert es das Genre doch in Richtung Videokunst – und Alberto Barbera hatte ja einen risikoreichen Wettbewerb versprochen. Spätestens zur Gala am Abend ist die Welt ohnehin wieder in Ordnung, wenn Johansson beim Fotografen- und Fan-Defilee unter pastellfarbenem Adriahimmel wieder sich selbst verkörpert, mit blondem Haar. Im Film trug sie es pechrabenschwarz.

Im untersten Kreis der Hölle ist in diesem Festival-Jahrgang die Familie angesiedelt. Ob als White-Trash-Elend in David Gordon Greens Kleinstadtthriller „Joe“ mit Nicolas Cage, aus dem die Kinder nur mittels nackter Gewalt befreit werden können, ob als eigensinniger Versuch über häusliche Gewalt in Philip Grönings „Die Frau des Polizisten“ (Tsp. vom 31.8.) oder als Rache-Kammerspiel in Kim Ki-Duks „Moebius“: Jedes Mal erweist sich Vatermutterkind als tragische Konstellation. Am blutigsten geht es bei Kim Ki-Duk zu, der 2012 für „Pietà“ den Goldenen Löwen gewann und nun mit seiner zwischen Ödipus und Medea angesiedelten Filmskizze außer Konkurrenz antritt.

Vater geht fremd, Mutter entmannt den Sohn, Vater lässt sich ebenfalls kastrieren, auch die Geliebte gerät in den Teufelskreis aus Obsession, Schuld und Sühne, Lust und Schmerz. Eine trashige Digikamera-Fingerübung über die Perversionen männlicher Genitalfixierung, könnte man sagen. Aber dank ihrer dramaturgischen Konsequenz fördert sie auch die heillose Verstrickung zutage, die wohl allen Familiendramen zugrunde liegt. Und das Erbarmen, das Kim Ki-Duk gerade mit denen gern hätte, die kein Erbarmen kennen.

Und dann bekommt man plötzlich Bilder zu sehen, gegen deren Unerbittlichkeit sich jede asiatische Grausamkeit wie ein Kinderspiel ausnimmt. Ein Mädchen springt an seinem elften Geburtstag vom Balkon, während die Familie ihr gratuliert, der Vater, die Mutter, drei Schwestern, ein Bruder. Oder ist der Vater der Großvater der Jüngsten? Die älteste Schwester ihre Mutter? Regisseur Alexandros Avranas gehört zur Generation des neuen griechischen Kinos („Alpis“, „Attenberg“), die mit kleinem Budget und stilistischer Präzision eindringliche Tableaus einer entfremdeten Gesellschaft entwirft. „Miss Violence“ ist ein stiller, nüchterner Horrorfilm, wie man ihn noch nicht gesehen hat. Den Zuschauer packt das Grauen angesichts dieser monströsen Familie. Weil wir wissen, vom Fall Fritzl, vom Fall Kampusch, von den Skandalen um häusliche Gewalt und Kinderprostitution: Was hier nach dem als Unfall vertuschten Selbstmord zutage tritt, existiert auch in der wirklichen Welt, in all seiner Kälte und Monstrosität.

Alexandros Avranas konzentriert sich auf die Normalität des Unvorstellbaren, die Mechanismen des Missbrauchs. Der Vater ist der Boss, mit seinen Kindern betreibt er einen Prostitutionsring. Wenn sie elf sind, steigen sie ins Geschäft ein. Zu Hause, im gesichtslosen Wohnblock am Rand einer Großstadt, herrscht ein strenges Regiment aus Überwachen und Strafen, zur Belohnung geht es an den Strand, morgen, vielleicht.

In ebenso streng symmetrischen, stillen Einstellungen hält Avranas die familiären Abläufe fest. Anders als bei Grönings Film begreift man, warum sich alle brav an das Regelwerk halten. Zerstört man eine Seele nur früh genug, ist die Verheerung vollkommen. Ein Film wie ein Schrei, es gibt kein Entkommen. Die bleichen Kindergesichter von „Miss Violence“, Zombies der Gegenwart, verfolgen einen noch Tage danach.

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