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Gespickt. In der Tauf- und Traukapelle des Berliner Doms ist dieser lebensgroße Männerakt von Gregor Gaida zu sehen, eine Paraphrase des antiken „Dornausziehers“.

© Privatsammlung Berlin

Die Ausstellungsreihe "Sein.Antlitz.Körper": Zeige deine Wunde

Kitsch oder Denkanstoß? Die Ausstellungsreihe „Sein.Antlitz.Körper“ zeigt Kunst in Berliner Kirchen, die explizit nicht religiös sein will.

Die geschnitzte Marienfigur aus dem 16. Jahrhundert in der winzigen Kirche St. Thomas von Aquin war in der Karwoche unter einer Stoffhaube verschwunden, auch das moderne Elfenbeinkreuz neben dem Altar verhüllt. Uralter katholischer Brauch oder aktuelle künstlerische Intervention? Im Rahmen der Ausstellungsreihe „Sein.Antlitz.Körper“ überblenden sich spirituelle und säkulare Vorgänge. Elf Kirchen beteiligen sich übers Jahr an dem Reigen, den Kurator Alexander Ochs mit diversen Kooperationspartnern organisiert hat. In St. Thomas von Aquin war es Jesuitenpater Georg Maria Roers, der auch die Künstlerseelsorge dort betreut. Zur Eröffnung zitiert er den Propheten Jesaja: „Seht her, nun mache ich etwas Neues: Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?“

Allein schon das Vorhaben, die versteckt liegende Kirche St. Thomas von Aquin zu finden, führt auf neue Wege und erfordert Stadtplangebrauch. Der minimalistische Kubus, 1999 eingeweiht, liegt im Hinterhof der Katholischen Akademie unweit der Chausseestraße und erweist sich als Schatzkästchen moderner Architektur. In dem feinen, kargen Raum hält sich die religiöse Symbolik zurück. Fast wie im White Cube einer Galerie ist hier jetzt die Kunst eingezogen. An einer Wand prangt, Hingucker, peng, ein groß aufgeblasenes Handyselfie von Ai Weiwei. Der chinesische Regimekritiker setzt sich darauf quasi selbst den Lichtblitz der Erkenntnis aufs Haupt, als Kameraflash. Das Foto schoss er mit dem Smartphone im Fahrstuhl, eingeklemmt zwischen Polizisten kurz nach seiner Verhaftung. Aber die christusförmige Selbstinszenierung wirkt zu aufdringlich in diesem asketischen Ambiente. Behutsamer agieren die Fotoporträts des Koreaners Kyungwoo Chun. Auf ihnen hüllen sich vier Modeschöpferinnen Schicht um Schicht in ihre wechselseitigen Lieblingsklamotten, bis sie wie mittelalterliche Gewandfiguren unter dem Textil fast verschwinden. Ein kluger Gedankenaustausch entspinnt sich zu der jetzt verhüllten rheinischen Madonnenfigur, die immer hier steht. Neben den Altar gerückt wurde eine zur Fußwaschung von Beuys hergerichtete Emailschüssel. Am Boden liegt ein Steincircle des Land-Art-Klassikers Richard Long aus versteinertem Zedern- und Redwoodholz. Eine wundersame Schöpfung: so offenkundig hölzern, so unwiderlegbar steinern sind die zum Kreis ausgelegten Fundstücke. Vom Stein her denken, das hat sich auch das Künstlerduo Doris Schälling und Jörg Enderle vorgenommen. Ihre unauffälligen Arbeiten, aus Granit, Schaumstoff und Spanplatten geschichtet und gemeißelt, bevölkern unauffällig auch die Wandelhalle, den Garten und hinter der angrenzenden Friedhofsmauer den Außenraum auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Dort bindet der Spazierweg auch die 2015 von Lichtkünstler James Turrell umgestaltete Friedhofskapelle ein.

Der Dom summt wie ein Bienenkorb

Das nächste Ziel liegt weniger verborgen. Der dicke Dom summt vor Touristen wie ein Bienenkorb. Aber wo in dieser neobarocken Haupt- und Staatskirche der Hohenzollern steckt nun die Kunst? Über den Säulen der Emporen hat Leiko Ikemura einige Nischen besetzt, die seit der Eröffnung des Doms frei geblieben waren. Wozu Baumeister Raschdorff sie einst konzipierte, weiß heute niemand mehr. Sie als Leerstellen in dem All-over aus Mosaiken, Stuckzier und farbigem Marmor überhaupt wahrzunehmen, brauchte sensiblen Künstlerblick. Ikemuras Frauenfiguren verharren auf den verschnörkelten Goldpodesten wie Wiedergängerinnen klassischer Heiligen- oder Märtyrerskulpturen. Aber sie sind gesichtslos. Unter ihren Kopftüchern und Gewandhüllen klafft ein dunkles Loch, eine ovale Leere, wie eine von Munchs „Schrei“ inspirierte Pathosformel stummen Entsetzens. Nimmt irgendein Besucher sie wahr?

Noch unsichtbarer macht sich die minimale Arbeit des israelischen Bildhauers Micha Ullmann. Um sie zu finden, muss man unter der wuchtigen Domkanzel den Blick niederschlagen. Ihren komplexen Sinn, der bis zu Moses Mendelsohn und nach Israel reicht, gibt die in den Steinboden eingelassene Skulptur trotzdem nicht ohne Weiteres preis. Hier braucht es eine Exegese von fast scholastischen Dimensionen. Eingängiger ist, in der angrenzenden Tauf- und Traukapelle, der lebensgroße weiße Männerakt von Gregor Gaida. Seine Paraphrase des antiken „Dornausziehers“ zeigt sich mit übergroßen spitzen Volumen gespickt. Wer in deren verspiegeltes Inneres blickt, sieht sich selbst. Kunstkitsch oder Denkanstoß? Viele Besucher nehmen den stylischen Anblick der Skulptur im Vorbeiflanieren auf ihrer Smartphonekamera mit.

Raum für Kunst waren Kirchen schon immer, zum Lob des Allerhöchsten und als Andachtsanlass für die Gläubigen. „Sein.Antlitz.Körper“ allerdings will bewusst keine religiösen Werke zeigen. Wo der inhaltliche Fokus aber stattdessen nun liegt, bleibt vage. Die menschliche Existenz, das Individum, der Leib: Unter diesem Motto ist nahezu alles möglich. Übers Jahr werden sich die Michaelskirche am Engelbecken, St. Canisius in Charlottenburg, die Zionskirche und weitere Gotteshäuser mit Ausstellungen einschalten, unter so disparaten Titeln wie „Ecce Homo“ oder „Tiere sehen dich an“. Dem Vorwurf der Beliebigkeit setzt sich dieses Unternehmen freimütig aus. Es möchte Offenheit demonstrieren, droht sich aber im Vagen zu verlieren. Im besten Fall schafft es Momente geschärfter Wahrnehmung. Was ja nicht das Schlechteste wäre.

Teil I: „Das Sichtbare und das Unsichtbare“, Berliner Dom, bis 1. Mai; Mo–Sa 9–20 Uhr, So 9–20 Uhr. Teil II: „Prozession, Performance und Licht“, St. Thomas von Aquin/Kath. Akademie, Hannoversche Str. 5, bis 1. Mai; Di–So 12–18 Uhr. Die weiteren Orte und Daten auf: www.sein-antlitz-koerper.de

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