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Kultur: Die Bildungsgrätsche

Man hätte schon beim Fußball hellhörig werden müssen. Aber Anfang der 90er Jahre erntete jeder, der den Zustand des deutschen Fußballs als bedenklich bezeichnete, noch ein selbstgefälliges Schulterzucken: Die Deutschen hatten immer gewonnen, wenn es darauf ankam.

Man hätte schon beim Fußball hellhörig werden müssen. Aber Anfang der 90er Jahre erntete jeder, der den Zustand des deutschen Fußballs als bedenklich bezeichnete, noch ein selbstgefälliges Schulterzucken: Die Deutschen hatten immer gewonnen, wenn es darauf ankam. Die Kritik an den verwöhnten Wohlstandsbengeln, die nur noch ihre Aktienkurse im Kopf hätten, aber längst nicht mehr auf der Höhe der aktuellen Technik und Taktik seien, wurde als "Kulturpessimismus" verunglimpft. "Der deutsche Fußball war noch nie so gut wie heute", schrieb die "FAZ" zur Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft 1994 in den USA, die mit einem Desaster endete.

Dabei waren die Signale unverkennbar: Während andere Nationen Improvisationslust und Fantasie förderten, wurden hier die "deutschen Tugenden" gepflegt. "Es gibt hier keine Schönheitspreise zu gewinnen", war der stehende Ausdruck deutscher Trainer und Reporter, um das unansehnliche deutsche Spiel zu verteidigen. Es ging darum, sich den Ball in den eigenen Reihen zuzuschieben, und biedere Abwehrarbeiter wie Jürgen Kohler oder Dieter Eilts avancierten zu deutschen Spielerpersönlichkeiten.

Alles, was mit Ästhetik zu tun hatte, wurde verachtet. Das Schlimmste schon in der F-Jugend war, wenn sich jemand "verdribbelte" oder "verkünstelte": Solche Flausen mussten ihm schleunigst ausgetrieben werden. "Ballverliebt" war ein Schimpfwort, und es bekam jeder noch so kleine Knirps zu hören, wenn er mal eine Idee hatte und etwas Überraschendes machte, statt unmittelbar zur Blutgrätsche anzusetzen. Man hielt das alles für pragmatisch, sachlich und erfolgsorientiert, nüchternes Effizienzdenken.

Während man überall sonst schon längst mit einer Viererabwehrkette spielte und gar nicht weiter drüber redete, konnten die Deutschen dieses Wort kaum buchstabieren und spielten noch mit dem alten Ausputzer. Das ballorientierte Spiel wurde etwa in Frankreich schon lange, bevor man Weltmeister wurde, in den Fußballschulen gelehrt: Dazu gehört es, mitzudenken, blitzschnell von der Abwehr in den Angriff überzugehen, alte Rollenverteilungen aufzugeben. Und es hat vor allem etwas mit der Fähigkeit zu tun, unkonventionell und intelligent zu reagieren. Diese Fähigkeit wurde jedoch im deutschen Trainings- und Schulsystem planmäßig ausgeschaltet.

Deswegen ist es nicht allzu überraschend, dass jetzt auch die deutschen Schüler in der Pisa-Studie international ganz unten stehen. Vor einigen Wochen hat ein Deutschlehrer vor der Akademie für Sprache und Dichtung den Niedergang des Literaturunterrichts an den Gymnasien beklagt: Die Schüler würden nicht mehr zum Lesen erzogen, sondern nur noch dazu, vorgefertigte Schablonen auszufüllen (siehe Tagesspiegel vom 28. 10.). Es ist dasselbe Phänomen - und hat etwas mit der deutschen Ideologie zu tun, alles, was ein bisschen mit Erkenntnis zu tun hat, für unwesentlich zu erklären. Es geht nur noch um die "angewandten" Wissenschaften; die akademische Modedisziplin der letzten Jahre heißt "Betriebswirtschaft". Deswegen gibt es auch keine Geisteswissenschaften mehr, sondern nur noch Betriebswirtschaften, sie heißen "Kulturwissenschaft" oder "Kommunikationswissenschaft". Dass man so gegen die B-Auswahl Portugals 0:3 unterliegt, liegt auf der Hand.

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