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Kultur: Die deutsche Krankheit

Uns geht’s schlecht – und die europäischen Nachbarn entwickeln Schadenfreude. Über die Notlüge von der sozialen Gerechtigkeit /Von Peter Schneider

In diesen Tagen, da sich die deutschen Medien nahezu stündlich mit neuen Schreckensmeldungen zur Wirtschaftslage überbieten, kann man die italienischen Kommentare zum deutschen Niedergang – unter einem immer noch sonnigen Novemberhimmel – nur mit Galgenhumor lesen. Die Italiener entdecken eine Art der Freude, die bisher eher als teutonische Passion gegolten hat: die Schadenfreude.

In einem von der Tagesszeitung „La Repubblica“ veröffentlichten Vergleich der Staatsdefizite der EULänder figuriert Deutschland als Klassenletzter, Italien an viertletzter Stelle. Wer hat uns denn, fragt man genüsslich, die gestrenge DreiProzent-Regel verordnet, die Deutschland in diesem Jahr so glamourös verfehlte und auch im nächsten Jahr verfehlen wird? Wer hat mit apokalyptischem Vokabular vor dem Schuldenmalstrom gewarnt, in den das marode Italien ganz Europa ziehen werde? Die Deutschen. Und jetzt sitzen sie selbst im Loch, genauer: im Abgrund und sind dabei, alle anderen mitzuziehen.

Aber in den beißenden Spott mischt sich auch Wehmut: Was ist nur aus dem deutschen Modell geworden, jener erfolgreichen Mischung aus harter D-Mark und Sozialstaat, auf das die ganze Welt so lange mit Bewunderung und Neid geblickt hat? „Addio modello Germania“, weint „La Repubblica“. Aber Italien plagt sich im Augenblick mit anderen Sorgen: Da gibt es einen Mann, der etwa 90 Prozent der italienischen Fernsehmedien kontrolliert und zufällig auch „Presidente del Consiglio“, zu Deutsch: Kanzler ist. Nicht wenige Italiener würden sich ein deutliches Wort Europas – nicht zuletzt von einem deutschen Bundeskanzler – zu diesem Alptraummärchen wünschen, das eher ins Morgen- als ins Abendland zu passen scheint .

Die Deutschen plagen sich im Augenblick mit anderen Sorgen. Für solche „Arabesken“ in der Nachbarschaft fehlt ihnen sowohl der Nerv wie die nötige Autorität. Denn sie sind ja bis über den Hals mit eigenen Malaisen eingedeckt. Aber sind sie das nicht schon seit 20 Jahren? Hören wir nicht seit 20 Jahren dieselben ultimativen Aufrufe zu Reformen, dieselben flammenden Sowohl-als-auch-Appelle, die in Wahrheit nur der Schmerzvermeidung und dem immergleichen Ziel einer „beibehaltenden Veränderung“ dienen?

Beispiele für dieses folgenlose Reden finden sich in der rotgrünen Regierungserklärung zuhauf: „Deshalb fördern wir die weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürgergesellschaft...Wir wollen die Zivilgesellschaft nicht deshalb stärken, damit der Staat sich aus seinen originären Aufgaben zurückzieht...Wir brauchen weniger Bürokratie und weniger Obrigkeitsdenken – aber nicht weniger Staat. Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat... ist nicht nur unbezahlbar. Er ist am Ende auch ineffizient und inhuman.“ Ein starkes Wort, dessen Ausführungsbestimmungen man vermisst. Was nun? Einerseits brauchen wir weniger Bürokratie und Obrigkeitsdenken – andererseits keinesfalls weniger Staat. Nur: Wie kann man Bürokratie abbauen, ohne auch den Staat zu trimmen? Einen Staat, der den Bürgern mit seinen knapp fünf Millionen unkündbaren Beamten und öffentlichen Angestellten eine der höchsten Staatsquoten der Welt aufzwingt? Die gesamten Staatsausgaben entsprechen rund 50 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts.

Ein Mann, der sich widerspricht, meinte der Philosoph Hegel, ist darum noch kein Dialektiker. Und es ist genau dieser dauerlächelnde, häppchenreichende, gleichsam talkshowgerechte Umgang mit der deutschen Katastrophe, der ihr Fortschreiten unaufhaltsam macht. Welche Botschaft erhalten die Bürger von einer Regierung, die das deutsche Staatsdefizit vor der Wahl noch auf knapp unter 3 Prozent bezifferte, es nach der Wahl bei knapp über 3 Prozent sah und heute 3,8 Prozent eingestehen muss? Die Ansage ist nicht: Es ist Ernst, Leute, und wir müssen alles, was uns bisher als nicht verhandelbar erschien, auf den Prüfstand stellen. Sondern: Beruhigt euch, irgendwie mogeln wir uns weiter durch!

Und ist es nicht merkwürdig, wenn eine neu gewählte Regierung alle paar Monate ihre Wachstumsprognosen nach unten korrigieren muss: von 0,5 auf 0,2 Prozent in diesem Jahr, von zunächst stolzen 2,5 im nächsten Jahr auf 2,0, dann auf 1,5, schließlich auf 1 Prozent? Und alle, außer dem jeweils tief überraschten Finanzminister Hans Eichel, warten schon auf die nächste Korrektur? Zeugt es von Voraussicht, wenn sich der Finanzminister immer wieder vor die Nation stellen und bekennen muss, dass neue Milliardenlöcher im Haushalt aufgetaucht sind, die er vorher – obwohl sie längst in der Zeitung standen – übersehen hatte! Und wie lange mag man es noch hören: das ewige Lamento über die lahmende Weltkonjunktur? Niemand bestreitet diese Tatsache, aber fragen darf man schon, woran es eigentlich liegt, dass etwa England, nicht gerade (wie Portugal oder Irland) ein Neuling unter den Industrieländern, 2002 rund 2,5 Prozent Wachstum zustande brachte und andere alte Kameraden wie Dänemark, Niederlande, Schweden nicht viel weniger?

Es ist nicht so, dass die Rezepturen gegen das, was inzwischen als „deutsche Krankheit“ durch die internationalen Schlagzeilen geistert, in einem Laboratorium neu erfunden werden müssten. Die Hexenmittel gegen diese Krankheit, die ja einst auch eine amerikanische, englische und skandinavische war, sind seit Jahrzehnten bekannt. In einigen Nachbarländern wie Dänemark, Holland, Schweden werden sie seit ungefähr 15 Jahren erfolgreich getestet. Übrigens waren es in Dänemark und Schweden ausgerechnet Sozialdemokraten, die ihre Länder, das Verratsgeschrei ihrer eigenen Klientel in Kauf nehmend, mittels dieser Rezepturen von der Plage der Arbeitslosigkeit und der Stagnation geheilt haben.

Die einzig relevante Frage ist, warum diese Mittel hierzulande nicht einmal in homöopatischen Dosen verabreicht werden. Es fehlt seitens der Regierung jede Strategie, die in die Zukunft weisen und den fälligen Streit riskieren würde. Einer der längst getesteten Grundsätze lautet: Es gibt nur einen verlässlichen Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit: mehr Wirtschaftswachstum und die Abschaffung der Arbeitslosigkeit. In den „sozialbrutalen“ Ländern wie Schweden und Dänemark wurden aus diesem Leitsatz Konsequenzen gezogen: flexible Verlängerung der Lebensarbeitszeit, weitgehende Lockerung des Flächentarifs und des Kündigungsschutzes, Kostentransparenz des Gesundheitswesens. Gegen diese Reformen stehen hier zu Lande Michael Sommer und Frank Bsirske von den Gewerkschaften. Nicht nur, dass sie, als Vertreter der mitgliederstärksten Organisation der Republik, jede Regierung „im Namen der sozialen Gerechtigkeit“ erpressen können. Sie wollen auch noch die Diskurshoheit über das Thema Gerechtigkeit und Moral zurückgewinnen. Nur zu, ihr Herren!

Nicht alle werden sich des Versprechens erinnern, mit der die IG Metall vor einem halben Jahr die Lohnforderungen der Metaller rechtfertigte: Sie sollten der Ankurbelung der Konjunktur dienen. Seit Monaten erfreut sich Deutschland dieser altruistischen Ankurbelung. Mit demselben Argument wird jetzt die 3-Prozent-Forderung der Beamten und öffentlichen Angestellten vorgetragen. Wiederum dient diese Forderung selbstverständlich nicht dem eigenen Vorteil, sondern der Ermutigung zum Konsum. Du lieber Himmel, warum muss man den einfachen Wunsch nach mehr Geld im Portemonnaie als eine Leidenschaft ausgeben, die dem Gemeinwohl dient?

Die Mutigen in Deutschland sind ausgerechnet die rotroten Administratoren in Berlin. Rien ne va plus, ist ihre Ansage. Aus, wir sind bankrott. Alles und alle Privilegien stehen zur Disposition. Das bei jeder Gelegenheit hochgehaltene Kruzifix „soziale Gerechtigkeit" wirkt in Berlin nicht mehr. Es ist längst zu einer Formel für „bloß nichts ändern“ verkommen. Wer das Land in eine Zukunft führen will, wird sich wohl oder übel mit den falschen Freunden anlegen müssen, die die „soziale Gerechtigkeit“ als eine Waffe zum Ausbau nicht mehr bezahlbarer Privilegien auf Kosten der Gemeinschaft benutzen. „Soziale Gerechtigkeit“, das ist eine Formel, die inzwischen so oft missbraucht worden ist wie die Frage an den Dissidenten in der DDR: „Du bist doch für den Frieden, oder?“

Der Autor lebt als Schriftsteller in Berlin und Italien. Zuletzt erschien von ihm „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen... Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte.“ (Rowohlt 2002)

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