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Kultur: Die Deutschland-WG

Multikulti-Vordenker Charles Taylor über Einwanderer und Integration

Mister Taylor, Berlin ist voller Deutschland-Fahnen. Wie empfindet das der Vordenker des Multikulturalismus?

Das ist eine positive Seite der Globalisierung. Die WM gibt den nationalen Gefühlen eine Ausdrucksmöglichkeit, aber in einem Rahmen, auf den sich alle geeinigt haben. Das ist wunderbar. Wie bei den Olympischen Spielen im Altertum, die die Nationen zusammenbrachten und sogar Kriege vorübergehend beendeten.

Es gibt auch Deutsche, die sich mit so viel Schwarz-Rot-Gold nicht wohl fühlen.

Ihr Deutschen seid traumatisiert. Man kann patriotische Gefühle ausleben und trotzdem multikulturell sein. Ihr müsst endlich Dr. Goebbels beerdigen!

Was ist multikulturell?

Es ist die Beschreibung der Realität: In den westlichen Gesellschaften leben immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Ethnien zusammen. Außerdem bezeichnet der Begriff eine Politik, die nach einem neuen Fundament für Integration sucht. Es gibt keine Alternative dazu. Immer mehr Gruppen aus unterschiedlichen Kulturen verlangen ein Mitspracherecht. Dem müssen sich moderne Gesellschaften stellen. Von einer starren Leitkultur auszugehen, der sich alle unterordnen, ist nicht mehr möglich. Gleichzeitig bedeutet Multikulturalismus aber keineswegs, dass alle abgeschottet in ihren Ghettos leben.

Wie könnte dieses Fundament für Integration aussehen?

Liberale Gesellschaften beruhen auf Menschenrechten, Verfassung, Demokratie. Und wir brauchen ein neutrales Fundament gegenüber der Religion. Aber ist der französische Laizismus der richtige Weg? Ist die Mauer der Rassentrennung in den USA der richtige Weg? Ist das, was wir in England oder Skandinavien haben, der richtige Weg?

Wo sehen Sie da Deutschland?

Anscheinend akzeptieren hier längst nicht alle, dass die Gesellschaft vielfältiger wird. Ich habe von der Rütli-Schule gehört und dem Problem, dass viele Kinder nicht richtig Deutsch können. In Kanada haben wir ähnliche Schwierigkeiten mit den Ureinwohnern. Sie haben ihre Ursprungskultur verloren, weil die Mehrheitsgesellschaft sie einverleibt hat. Aber sie bekamen nicht wirklich die Instrumente, vor allem die Sprachinstrumente, um in der Mehrheitsgesellschaft funktionieren zu können. So wurden sie an den Rand gedrängt und immer aggressiver. Auch die Muslime in Europa wurden an den Rand gedrängt, jetzt werden sie sauer. Die Amerikaner haben das Problem mit den Afro-Amerikanern. Wenn es erst so weit ist, ist es schwer, da wieder rauszukommen.

Ist es nicht Sache der Einwanderer, sich diese Instrumente anzueignen?

Ja, aber wenn sie es nicht tun, muss man sie dazu bringen. In Quebec tun wir alles, damit sie Französisch lernen. Da stecken wir verdammt viel Geld rein. Denn der Preis der Nichtintegration ist viel höher.

Müssten die Einwanderer nicht auch stolz darauf sein, Deutsche zu werden?

Nein, mehr Patriotismus nützt nichts. Die Leute kommen, weil sie hier etwas erreichen und wirtschaftlich aufsteigen wollen. Wenn das nicht gelingt, wächst die Unzufriedenheit. Den Grund sehen sie darin, dass sie ausgegrenzt werden. Ein paar rasten aus, weil sie sich mit den Erfolglosen aus ihrer alten Heimat identifizieren. Ich denke, das war der Grund für die Londoner Bombenbauer. Es hilft aber nichts, wenn man die Leute zwingt, ihre alte Staatsbürgerschaft aufzugeben, wenn sie Deutsche werden. Integration braucht Zeit und wirtschaftlichen Erfolg.

Aber sowohl die Londoner Selbstmörder als auch die Männer, die in Kanada Attentate planten und kürzlich festgenommen wurden, passen nicht in dieses Raster. Sie waren integriert. Sind sie nicht der Beweis, dass Multikulti gescheitert ist?

Nein. Es beweist nur, dass sich auch die Suche nach Identität globalisiert hat. Die Attentäter glauben, dass da draußen eine Masse ist, die das toll findet, was sie tun. Sie sehen sich als Elite. Welche Politik wollte das verhindern? Das könnte doch nur eine Politik sein, die ihre Bürger von der Außenwelt abschneidet.

Manche Politiker fordern, wir müssten noch mehr tun, damit die Migranten hundertprozentige Deutsche werden.

Wahrscheinlich glaubt man den Eingewanderten erst, dass sie wahre Deutsche sind, wenn sie zum Protestantismus konvertieren! Einwanderungsländer wie die USA waren nicht deshalb erfolgreich, weil sie die totale Assimilation verlangten, sondern eine eigene Identität ermöglichten. Wer verlangt, dass die Einwanderer ihre Religiosität aufgeben, vergrößert noch die Entfremdung und spielt bin Ladens Spiel. Das bestätigt diejenigen, die gegen den atheistischen Westen wettern.

Aber was kann man gegen die wachsende Gruppe vor allem junger muslimischer Männer tun, die nicht integriert sind und gewalttätig? Da ist nicht die Politik schuld.

Aber auch. Viele Gastarbeiterfamilien hatten kaum Bildungschancen – ein Problem noch für die folgende Generation. Da gab es zu wenig Anstrengungen. Beide Seiten müssen lernen, dass die jeweils andere nicht monolithisch ist und es Leute gibt, mit denen man reden kann. Als ich jung war, bekämpften meine Verwandten in der kanadischen Armee Deutschland. Sie sagten: Die deutsche Kultur ist korrupt, man muss diese Leute von der Landkarte verschwinden lassen oder sie umerziehen, so dass sie Schwedisch sprechen. Das ist verständlich, aber absurd. Meine Verwandten hatten es mit einer bestimmten Schicht von Deutschen zu tun. Sie sahen nicht, dass es noch andere gab.

Was heißt das für die aktuelle Lage?

Ähnlich wie damals wird die arabische Welt hier nur unvollständig wahrgenommen. Es gibt eine recht erfolgreiche Mobilisierung durch radikale Kräfte. Aber statt den Muslimen zu helfen, die sich dagegenstellen, haben die meisten Deutschen keine Ahnung, was passiert. Sie wiederholen bloß Phrasen über den Islam, bis viele denken, alle Muslime seien Terroristen. Das wiederum gibt den Muslimen das Gefühl, man will sie nicht – was sie empfänglich für Extremisten macht. Am Schluss versichert sich jede Seite ihrer moralischen Überlegenheit, und dann geht’s bergab.

Man kann auch versuchen, sich mit Polizei-Maßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen gegen die Probleme abzuschotten.

Das ist keine Politik, es wäre ein Versagen. Heute ist es unmöglich zu sagen: Benehmt euch, oder ihr landet im Gefängnis. Es ist ein langer Prozess. Ich verstehe nicht, warum in Deutschland diejenigen, die erfolgreich hier angekommen und aufgestiegen sind, nicht stärker in die Bemühungen eingebunden werden, die weniger Integrierten ins Boot zu holen. Das würde den Deutschen das Gefühl geben, es bewegt sich was. Und die andere Seite hätte mehr Vorbilder.

Manche Deutsche stehen Muslimen grundsätzlich skeptisch gegenüber, auch wegen der repressiven Elemente des Islam.

Das ist aber oft eine Mischung aus Religion und archaischen Traditionen. Die grausame Beschneidung von Frauen zum Beispiel hat keine Basis im Koran. Man muss dem modernen europäischen Islam die Chance geben, sich zu entwickeln. Ich kenne viele Muslime, die sich danach sehnen. Wir müssen daran arbeiten, dass diese Gruppe zur Mehrheit der Muslime wird und dass ihre Religion nicht länger von Leuten instrumentalisiert wird, die in eine Sackgasse fahren.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Lars von Törne.

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