zum Hauptinhalt

Die Documenta im Roman: Gut geblufft, Löwe

Sinn oder Unsinn: Mit „Kassel: eine Fiktion“ liefert der Spanier Enrique Vila-Matas den Schlüsselroman zur Documenta.

Einen solchen Roman musste es einfach mal geben, nicht nur zur Documenta-Zeit! Denn wenn von den abenteuerlichen, oft geheimnisvollen oder auch nur amüsant-verrückten Verbindungen zwischen bildender Kunst und gebildetem Leben die Rede ist, dann fällt einem alle fünf Jahre wohl Kassel ein. Provoziert die Kunstmoderne mit ihren intermedialen Verwischungen aller Kategorien und Genregrenzen doch gerade die Fantasien, auch von Filmemachern oder von Schriftstellern.

Also beginnt „Kassel: eine Fiktion“, der schon im Titel so doppelpunktschlaue Roman des katalanischen Autors Enrique Vila-Matas, mit einer Anspielung auf Alfred Hitchcock. Und: Charmanter, gewitzter als dieser Roman-Auftakt war lange keiner mehr. Eines Morgens nämlich erhält der (wie V.-M.) als Schriftsteller in Barcelona lebende Ich-Erzähler den Anruf einer gewissen María Boston. Sie sei die Sekretärin des irischen Ehepaars McGuffin, welches ihn gerne zum Abendessen einladen wolle, um ihm „das Geheimnis des Universums“ zu enthüllen.

Nun ist der Erzähler im Buch ebenso wie sein 1948 geborener Schöpfer ein bekennender Liebhaber der Literatur, der bildenden Kunst und der McGuffins. Zudem bezeichnet er sich als „avantgardistischer Autor“, deshalb gehört auch ein wenig Dada zur eigenen Aura – und zu den schönsten Dadaismen des Kinos zählt natürlich ein „McGuffin“. Alfred Hitchcock nannte so die Erfindung eines reizvollen, rätselhaften Details, etwa die „39 Stufen“, die in Hitchcocks gleichnamigem Krimi gar keine Rolle spielen. Vila-Matas schreibt, seinerseits Hitchcock paraphrasierend: Ein „McGuffin ist ein Apparat, um Löwen in Deutschland zu fangen“. Wer hierauf erwidert, in Deutschland gebe es gar keine Löwen, erhält zur Antwort, dann sei der Apparat wohl „kein McGuffin“. Sondern ein Bluff.

Das Geheimnis des Universums bleibt verborgen

Auch das Ehepaar McGuffin erweist sich hier als Fiktion, das Geheimnis des Universums bleibt verborgen, aber die schöne Dame María Boston spielt zwischen Bluff und Bezauberung ihre Rollen so überzeugend, dass sie als imaginär-reale Mitarbeiterin von Carolyn Christov-Bakargiev und Chuz Martínez, im Jahr 2012 Leiterinnen der Kasseler Documenta 13, den eher eigenbrötlerischen Autor aus Barcelona in die temporäre hessische Weltkunst-Provinzmetropole verführt. Folglich wird der Erzähler für eine Woche in einem Hotel am Kasseler Stadtrand einquartiert, um dann im nahe gelegenen China-Restaurant „Dschingis Khan“ tagsüber als writer in residence seinem Beruf nachzugehen und dort mit vorbeischauenden Documenta-Besuchern nach Lust und Laune „zu kommunizieren“.

Das „Dschingis Khan“ entpuppt sich freilich als triste Lokalität, ein weder der Kunst noch der Küche wegen frequentierter Ort. Der Erzähler, eine lebende Installation fast ohne Publikum, erinnert uns so daran, dass bereits bei der vorangegangenen Documenta 12 das Engagement seines katalanischen Landsmannes Ferran Adrià, des damals weltgrößten Kochkünstlers, ein Fehlschlag war und auch Ai Weiweis 1001 nach Kassel geladene Chinesen keinen nachhaltigen Eindruck machten. Reminiszenzen und Referenzen solcher Art gehören hier zum ironischen Subtextrepertoire. Doch ungeachtet des eignen Missgeschicks nimmt Vila-Matas die über ganz Kassel vom Bahnhof bis in die weite, parklandschaftliche Karlsaue verstreute Documenta 13 als einen Parcours der Wunder wahr, der sonderbaren Überraschungen und allmählichen Inspiration. Voll postmoderner Chuzpe spielt „Kassel: eine Fiktion“ dabei mit realen Werken der damaligen Kunstschau, die eine der besten Documentas seit Langem war.

Mithin wird das von Petra Strien einfühlsam übersetzte Buch zum postmodernen Bildungs- und Schlüsselroman. Die Documenta 4-D: Kunst in der vierten Dimension der Literatur. Das fängt an mit Vila-Matas’ vielfach zitierten Lesefrüchten und Assoziationen, von Kafkas „Beim Bau der chinesischen Mauer“ bis zu Raymond Roussels „Locus Solus“; und weil ihm „der Schankwirt Salomon Piniowsky“, eine Nebenfigur aus Joseph Roths Erzählung „Die Büste und der Kaiser“, irgendwann auch an Documenta-Themen „wie Europa und Tod“ erinnert, nennt er sich vorübergehend selbst Piniowsky – anstelle eines auf Rimbauds Diktum „Ich ist ein Anderer“ bezogenen Alter Egos namens Autre.

Gelegentlich ist das ein wenig viel Bildungsgeklingel

Das ist oft ein bisschen viel des Bildungsgeklingels. Weniger Namen, mehr Handlung!, möchte man da rufen, auch wenn Vila-Matas dem Einwand der Weitschweifigkeit mit einem charmanten Zitat von Blaise Pascal begegnet: „Der einzige Grund, warum ich Dir einen so langen Brief schreibe, ist, dass ich nicht die Zeit hatte, mich kürzer zu fassen.“

Offen bleibt, ob der Erzähler als Flaneur durch die dunklen Illusionsräume von Tino Sehgal, die akustisch-plastischen Landschaftsarchitekturen von Pierre Huyghe und Jane Cardiff oder durch die filmischen Schattenzeichen eines William Kentridge für seine eigene, in den Abendstunden leicht neurotische Existenz tatsächlich eine Erleuchtung erfahren hat. Immerhin glaubt er sich von einer „unsichtbaren Brise kraftvoll begrüßt“. Und am Ende trägt gar eine verrückt traurige blonde deutsche Dame einen vielleicht heilsamen, der Pointe wegen hier nicht zu verratenden Namen.

Wer also die Documenta liebt und das in Kassel alle fünf Jahre mal besser, mal beliebiger zu beobachtende Gespinst aus Symbol und Sinn (oder Unsinn), aus Kunst und Leben und Kunst als eigener Lebensrealität, wer dann bisweilen nicht mehr weiß, ob eine Tür in der Wand einfach in andere Räume führt oder nicht nur eine Sinnestäuschung ist und ein Vogel im Park einfach Natur darstellt oder eine politisch-poetische Installation, wer das mag, dem sollte dieser Kasselkunstroman unbedingt gefallen.

Enrique Vila-Matas: Kassel: eine Fiktion. Roman, aus dem Spanischen übersetzt von Petra Strien, Die andere Bibliothek, 300 Seiten, 42 €

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false