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Kultur: Die Einsamkeit des Ohrlosen

Scheitern als Lebenskunst: Wilhelm Genazino verspürt in seinem neuen Roman nur „Mittelmäßiges Heimweh“

Es ist ein kleiner, splattermäßiger Schocker, mit dem Wilhelm Genazino seinen neuen Roman „Mittelmäßiges Heimweh“ beginnt, zum Leidwesen des Romanhelden, zur Verblüffung der Leser. Ein Ohr liegt da eines schönen Sommertages auf dem Boden einer Fußballkneipe! Ja, ein echtes menschliches Ohr, das nur Genazinos Ich-Erzähler Dieter Rotmund abgefallen sein kann, einfach so, ganz plötzlich, im Gebrüll der Fußballfans völlig unbemerkt. Fluchtartig verlässt Rotmund die Kneipe. Ihm wird klar, „daß ich seit ein paar Minuten in einer Tragödie lebe“. In einer bösartigen Tragödie, wie er anmerkt, denn ganz unbekannt ist Rotmund das Leben in einer Tragödie nicht. Bislang blieb er dabei aber körperlich unversehrt.

Auch die Leser von Genazinos Romanen wissen um die Tragik seiner in der Regel männlichen Helden, um ihr bunt schillerndes, vielfältiges und speziell männliches Leid, um die Komik, die daraus resultiert. Aber ein abgefallenes Ohr? Versteht Genazino keinen Spaß mehr? Fühlt er sich nicht ernst genommen, gar als Witzbold missverstanden, nachdem sich in seinem letzten Roman „Die Liebesblödigkeit“ zahlreiche Figuren mit Berufen wie Ekelreferent, Panikberater oderZivilisationsapokalyptiker gegen die Zumutungen der Welt zu wehren versuchten? Hat er möglicherweise das Fach gewechselt und zu oft David Lynchs Film „Blue Velvet“ gesehen? Setzt er auf schrille Effekte, versucht er sich jetzt im Surrealen?

Das sind bange Fragen, die im Verlauf der Lektüre aber ihre Dringlichkeit verlieren – trotz eines kleinen Zehs, dessen Rotmund ebenfalls verlustig geht, trotz eines Kinderdaumens, den er eines Tages auf einem Spielplatz findet. Wilhelm Genazino ist der Alte geblieben, „Mittelmäßiges Heimweh“ ist ganz auf der Höhe seiner Kunst. So wie Genazino zuverlässig alle zwei Jahre einen schlanken Roman von knapp zweihundert Seiten abliefert, so wie ihn selbst die Georg-Büchner-Preisverleihung 2004 nicht aus Schreibrhythmus und geregeltem Veröffentlichungszyklus hat bringen lassen, so gibt es hier auch inhaltlich wieder das volle Genazino-Programm: Humor und Melancholie, Ironie und Alltag. Alles getreu der Devise aus einem älteren Genazino-Roman, „daß wir unsere eigene Geschichte immer wieder erzählen müssen und nach jedem Erzählen glauben, wir hätten sie noch nicht richtig erzählt“. Die Bordellszene fehlt genauso wenig wie die nicht gerade erbaulichen Erinnerungen des Helden an seine Kleinbürgereltern, die alles andere als erotischen Sexszenen gibt es genauso wie die Seitenhiebe des Erzählers auf eine von „Schrillheiten überfüllte Welt“, in der ein Ohrloser naturgemäß kein Aufsehen verursacht. Dieter Rotmund, 43 Jahre alt, von Beruf Controller in einer kleinen Pharmafirma, ist ein Einzelgänger ohne Freunde, aber mit Ehefrau und ein paar Frauenbekanntschaften. Er leidet an sich, der Welt und seiner Einsamkeit, dazu lebt er auch noch räumlich getrennt von seiner Frau Edith: Sie wohnt mit der gemeinsamen Tochter im Schwarzwald, er in der Großstadt. Nach dem Abflauen der ersten Liebe wollten beide nicht auf ihre gewohnte Umgebung verzichten. Später muss Rotmund ganz ohne sie auskommen: Edith trennt sich von ihm, sie hat einen anderen. Das kommt Rotmund hart an. Noch härter aber ist für ihn, dass diese Trennung seinem Mittelmaß nur eine weitere Facette hinzufügt: „Trotz aller Mühe, aus meiner Ehe etwas Besonderes zu machen, bin ich jetzt sicher, daß auch meine Ehe mittelmäßig war. Schon meine Eltern waren mittelmäßig, meine Kindheit war mittelmäßig, außerdem meine Schulzeit, mein Abitur und das Studium, aber seit dem letzten Anruf steuere ich auf das Mittelmäßigste zu, was es überhaupt gibt: auf eine Scheidung.“

Traurig das, eigentlich nur was für masochistisch veranlagte Durchschnittsmenschen, die einen Roman lang mal in einen Spiegel schauen wollen (und welcher Durchschnittsmensch macht das schon gern?). Wäre da nicht zum einen diese fast schon unverschämt leichte und schwebende Sprache, mit der Genazino Rotmunds Unglück erzählt; eine Prosa, die sanft vor sich hinschnurrt, in der sich dann jedoch unentwegt tonnenschwere, der Not des Erzählers und seinem Zwang zur Reflexivität geschuldete Sätze finden wie „Mein Schicksal zwingt mich über mein Leben nachzudenken, das ist so ziemlich das Übelste, was einem zustoßen kann“. Oder: „Ich spürte so stark das bloß Vorübergehende des Lebens, daß ich vorübergehende Menschen ihres Vorrübergehens wegen beschimpfen wollte“.

Und wäre da nicht zum anderen die Fähigkeit Rotmunds, die Schrecken des Mittelmaßes mit einer hochgradig verfeinerten Beobachtungsgabe zu kontern. Rotmund geht den Peinlichkeiten des Daseins auf den Grund, er erfreut sich laufend an Wortirrtümern wie Panikawurst oder Wortungetümen wie Tränensaugkraft und Schnürsenkelvorratshaltung, und er ist wie so viele von Genazinos Helden ein Flaneur aus einer inneren, lebensrettenden Notwendigkeit heraus. Rotmund streift so lange durch die Straßen seiner Stadt, mutmaßlich Frankfurt, Genazinos Wohnort, „bis mich die Stille der angeschauten Dinge langsam ergreift und mich ebenfalls ruhig macht“.

Sieht man mal von den abfallenden Körperteilen ab, passiert nicht viel in „Mittelmäßiges Heimweh“: die Fahrten in den Schwarzwald, die Trennung von der Ehefrau, Rotmunds Aufstieg in der Firma (immerhin!), eine Geliebte namens Sonja, die Rotmunds Vormieterin war – das ist an Ereignissen alles in diesem Roman. Dagegen verläuft die innere Entwicklung Rotmunds geradezu dramatisch. Als „Überwinder“ bezeichnet er sich irgendwann oder, wenn er als Überwinder scheitert, auch als „Zerstreuer“. So macht er aus dem Scheitern eine Lebenskunst. Da weiß er bald schon seiner kleinbürgerlichen Herkunft Positives abzutrotzen, gerade im Vergleich mit Sonja, die eine randständige Existenz zwischen Obdachlosigkeit und Gefängnis führt: „Meine kleinbürgerliche Angst und Überkontrolliertheit (...) hat niemals zugelassen, daß mein Leben in derartige Fahrwasser geriet“. Und trotz aller Verluste, trotz aller auch innerer Beschädigungen, trotz des von ihm immer wieder konstatierten ausbleibenden Sinns im Leben gefällt er sich zunehmend darin, seine Grübeleien unvermittelt abzubrechen mit Worten wie „Ach, ich habe keine Lust auf solche Gedanken“. Es muss ja weitergehen, hilft ja nichts.

Am Ende findet Rotmund sich in einer neuen Liebesgeschichte wieder, jedenfalls kommt ihm das so vor, und da sind dann Not und Gelächter, Trauer und Witz, Depression und Hoffnung so fest miteinander verschweißt, dass aus dem typischen Genazino-Trostlosigkeitsroman schon lange wieder ein typischer Genazino-Beglückungsroman geworden ist.

Wilhelm Genazino: „Mittelmäßiges Heimweh“. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2007. 189 Seiten, 17, 90€

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