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Die "FAS" erzählt: Der lange Weg aus Mitte

Die „FAS“ entdeckt den Berliner in sich - Claudius Seidl brilliert in einer weiteren literarischen Exkursion durch die Hauptstadt.

Berlin, das weiß man, ist keine ganz kleine Stadt; und in Berlin, auch das weiß man, ist die Diskrepanz zwischen dem Anspruch, eine Weltmetropole zu sein, und der muffig-kleinkarierten Realität eine gleichfalls nicht ganz kleine. Wie winzig Berlin jedoch werden kann, wie gut es sich auf die Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg Süd zurechtschrumpfen lässt und wie aus dieser beschränkten Perspektive „Weltstadtwerdungswünsche eine solide Basis“ bekommen sollen, kann man jetzt in einem kleinen Büchlein mit dem Titel „Schaut auf diese Stadt – neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin“ nachlesen. Es stammt von fünf Journalisten, die bei der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ arbeiten oder dort mal gearbeitet haben, von Claudius Seidl, Peter Richter, Georg Diez, Nils Minkmar und Anne Zielke, und es ist der Nachfolger eines 2003 erschienenen Bandes mit dem Titel „Hier spricht Berlin – Geschichten aus einer barbarischen Stadt“.

Schon damals faszinierte, wie wenig die fünf FASler in Berlin zu erleben bereit waren, wie oft es in ihrem Buch typisch neuberlinerisch um langsame Straßenbahnen, kackende Hunde und übel gelaunte „Autochtone“ und das schöne München (Claudius Seidl) ging. Immerhin überzeugte „Hier spricht Berlin“ in seinem souveränen Gestus, keine Liebdienerei betreiben und die Jubelberliner (Berlin brummt! Berlin ist aufregend!) mal ordentlich verhauen zu wollen.

Dieses Mal ist die Erlebnisarmut eher noch größer geworden. Es gibt noch weniger Berlin und noch mehr Journalistentalk für Journalisten und vielleicht noch ein paar Szenegänger in besagten Bezirken. Berlin, ein Fest fürs Journalistenleben. Am besten performt von Claudius Seidl, einem der beiden Feuilletonchefs der „FAS“ und Herausgeber dieses Büchleins, zu dem er auch die meisten Beiträge geliefert hat. Seidl geht zur Arbeit und wieder zurück, trifft Bettler, Obdachlosenzeitungsverkäufer, Straßenmusiker und die Prostituierten von der Oranienburger Straße, an denen allen nun mal kein Mensch/Berliner/Nichtberliner vorbeikommt, so er nicht total selbstversunken und blind durch die Stadt läuft. Dann geht Seidl noch ins Einstein Unter den Linden zum Mittagessen, ins 103 in der Kastanienallee zum Feierabendbier und später auf Vernissagen und Partys, wo er andere Journalisten, Schriftsteller und Hipster trifft. Und wenn einmal nicht, wenn eine „internationale Immobilienfirma“ lädt und Seidl so gar keinen kennt und auch nicht erkannt wird, gibt’s Ärger satt: „Ich fand, wir hatten viel zu wenig getrunken und gegessen. Wir hätten ganze Kisten Champagner mitnehmen sollen als angemessene Statistengage“.

Geradezu ein Berlintrotter ist dagegen der Kollege Peter Richter, der Berlin immerhin einmal in Hamburg findet, bei einer Bundesliga-Konferenz in einer Astra- Kneipe oder es zumindest bis Kreuzberg schafft. Das zwar auch nur zum ultrafolkloristischen 1. Mai, aber nun gut: Wie er und sein Freund T. dort zwischen die Fronten von Polizisten und Hardcore-Lesben geraten und wie Richter das erzählt, das hat schon was, gar echte Erzählansätze. Nicht uncharmant wiederum ist der von Georg Diez unternommene Versuch, sich der Stadt zu nähern, indem er ihren speziellen Wind, ihr spezielles Licht und ihren speziellen Umgang mit der Zeit beschreibt. Not macht eben erfinderisch, und man muss ja auch nicht gleich an den Wannsee oder nach Französisch Buchholz fahren, um den Charakter Berlins zu entdecken: „Erst im Sturm ist diese Stadt ganz bei sich“. Vermutlich aber haben diese Geschichten in erster Linie therapeutischen Charakter. Als Claudius Seidl bei einem Urlaub auf Capri die einheimischen Männer als zu rausgeputzt erscheinen, fühlt er auf einmal den Berliner in sich, bekommt sein sensibles Münchner Herz echte Rhythmusstörungen. Da ist wirklich alles verloren: Berlin hat brutal zurückgeschlagen, Nabelschau hin, Weltstadtwerdungswünsche her. Und wenn Seidl und seine Kollegen nicht geflüchtet sind, dann leben sie noch heute in Berlin.

Claudius Seidl (Hg.): Schaut auf diese Stadt. Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 206 Seiten, 8,95 €.

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