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Kultur: Die Gaben der Geister

Constantin Rauer zeigt, wie sich Immanuel Kant von dem Mystiker Swedenborg inspirieren ließ

Schöneberg, das war die Hochburg der Berliner Intelligenzia in den 80er Jahren. Constantin Rauer, heute 50, ist dort seit Studentenzeiten verwurzelt. An der Freien Universität hörte er unter anderem bei Jacob Taubes. Der eigenwillige Ordinarius für Philosophie und Judaistik hatte in einer Villa in der Dahlemer Thielallee das „Institut für Hermeneutik“ ausgerufen, das heute als „Arbeitsbereich Hermeneutik“ am Institut für Philosophie fortbesteht. Zusammen mit seinem Assistenten Norbert Bolz rezipierte Taubes auch die französischen Poststrukturalisten – Jacques Lacan, Michel Foucault oder Jacques Derrida –, um eine neue Lesart von Martin Heidegger, Carl Schmitt oder dem Paulus-Evangelium vorzuschlagen.

In den 90er Jahren wurde der Philosoph Rauer dann Assistent von Klaus Heinrich am Religionswissenschaftlichen Institut der FU, um an der Universität Tübingen, wo er spät promovierte, dann einer harten Prüfung unterzogen zu werden. Mit der Berliner Schule, aus der er kam, war er dort ein Fremder. Ein Stück weit ist er das bis heute geblieben. Dafür steht auch sein jüngstes Buch „Wahn und Wahrheit – Immanuel Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen“ (Akademie Verlag, 377 S., 49,80 €): eine neue Entstehungsgeschichte der „Kritik der reinen Vernunft“. Der Königsberger Philosoph wird hier zum Wegbereiter von Sigmund Freud. Rauers These lautet: 200 Jahre lang ist die Forschung durch ein berühmtes Wort Kants dazu verleitet worden, dessen so genannte kritische Wende „als eine Art Synthesis von Rationalismus und Empirismus“ zu verstehen. Kant selbst hat dazu beigetragen. Er versicherte, dass seine „Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer“ der „Erinnerung des David Hume“ zu verdanken sei. Dem Skeptiker Hume galt, grob gesagt, allein die Erfahrung als Quelle und Grenze menschlicher Erkenntnis. Hume und der englische Empirismus waren damit die Widersacher des in Deutschland vorherrschenden Rationalismus, demzufolge eine gottgegebene oder angeborene Vernunft die Grundlage menschlicher Erkenntnisfähigkeit sei.

Kants Hinweis auf Hume ist für Rauer nur eine „Deckerinnerung“, um seine „Kritik“ dem breiten Publikum schmackhaft zu machen. Erst zehn Jahre nach der Niederschrift seines Hauptwerks habe er diese falsche Spur in einer „Vorrede“ gelegt. Doch nicht etwa die Auseinandersetzung mit dem englischen Empirismus oder dem deutschen Rationalismus habe Kants Werk möglich gemacht, sondern die Lektüre des Theosophen Emanuel Swedenborg. Dies zu verschleiern sei notwendig gewesen, sonst wäre Kant „sicherlich für ebenso verrückt erklärt worden wie der Geisterseher“ Swedenborg. Zumal Kants Erkenntnis lautet: Die Metaphysik der Geister aus der Feder Swedenborgs, eines „Kandidaten fürs Hospital“, lässt sich in ihren Grundzügen nicht von der Metaphysik des Mathematikers und Philosophen Leibniz unterscheiden.

Swedenborgs 4500-seitiges Hauptwerk „Arcana coelestia“ (Himmlische Geheimnisse) handelt von den Grundlagen seiner angeblichen „Wundergabe“, eines „geheimen Umgangs mit der unsichtbaren Geisterwelt“. In einem Fall habe Swedenborg einer Ratsuchenden den Verbleib einer Quittung für ein Tafelservice verraten können, nachdem er ein Zwiegespräch mit deren verstorbenen Ehemann führte: Die Quittung lag im Geheimfach eines Sekretärs. Swedenborgs Wundergaben seien, so Kant, empirisch nicht belegbar, dessen Werk bestehe aus „acht Quarterbänden voll Unsinn“: „theosophischer Neuplatonismus“.

Für Kants Zeitgenossen, so Rauer, wurde „Wahrheit“ wahlweise in den Dingen gesucht oder in der Tiefe der Vernunft. Kant aber habe gezeigt, dass so auf dieselbe Weise „Wahrheit“ produziert wird, wie bei Swedenborg der „Wahn“ von körperlosen Geistern. Hier wie dort habe man es mit „logischen Fehlern“ zu tun. Ihnen kommen, so Rauers These. eineinhalb Jahrhunderte später Psychoanalyse und Psychiatrie auf die Spur. Die logischen Fehler heißen nun Psychose, Ich-Spaltung und Paranoia, in der Sprache der Psychatrie „katatonische“, „hebephrene“ und „paranoide“ Schizophrenie. Viel Sorgfalt verwendet Rauer in dieser vergleichenden Analyse, die in tabellarisch aufgearbeiteten Begriffsttypologien mündet, deren Analogien er anschaulich beschreibt und zuspitzt: Die Reflexionen von Kant und der modernen Wissenschaften des Geistes liegen beide darin, „dass zwischen gesundem Verstand und krankhafter Verrücktheit substantiell gar kein Unterschied festzustellen ist: dass die enthusiastischen Genies nicht weniger projizieren als die fanatischen Schwärmer.“

Einem „neuen Irrationalismus“ redet Rauer damit nicht das Wort – die Mechanismen der Projektion (Verschiebung, Verdichtung, Halluzination) mögen bei vernünftigen und verrückten Gedanken ähnliche sein, Wahn und Wahrheit lassen sich dennoch unterscheiden. Die Modernität Kants besteht laut Rauer darin, dass er uns zwar die Möglichkeit absoluter Aussagen über die Welt (das „Ding an sich“) aus der Hand schlägt. Dafür schaffe er einen transzendentalen Rahmen – Raum und Zeit sowie Vernunfturteile –, innerhalb dessen eine Kritik der Urteile möglich wird – eine Analyse individueller und kollektiver Projektionen.

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