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Kultur: Die Gegen-Nofretete

Tod und Erlösung: Das Berliner Kupferstichkabinett ehrt „Dürers Mutter“

Nun haben sich die Ärzte über das Porträt hergemacht und festgestellt: Der Kaumuskel der 63-Jährigen ist völlig zurückgebildet, sie kann schon lange nichts mehr gegessen haben. Die Stirnmuskeln sind angespannt, die Augen treten hervor: ein Zeichen von schlechter Sicht. Und die eingefallenen Wangen sprechen von schwerer Krankheit und finaler Auszehrung. Es ist ein Abschiedsbild: Zwei Monate, nachdem Albrecht Dürer das erschütternde Bild seiner Mutter Barbara gezeichnet hat, ist diese gestorben.

„Unsere Nofretete“ nennt Kupferstich-Chef Hein-Th. Schulze Altcappenberg das Blatt, das sich seit 1877 in Berliner Besitz befindet, liebevoll. Was die Berühmtheit angeht, hat er Recht: bis in die Plakatkunst eines Klaus Staeck ist das Bild von Dürers Mutter präsent, es darf, fragil wie es ist, für keine Ausstellung ausgeliehen werden. Inhaltlich jedoch ist es eher die Gegen-Nofretete: hier Jugend, dort Alter, hier Schönheit, dort Tod.

Wenn das Kupferstichkabinett die Berühmte nun ins Zentrum einer Ausstellung über „Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance“ stellt, knüpft sie aufs schönste an die gerade zu Ende gehende Melancholie-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie an – und beweist zugleich die Chancen einer Kabinett-Ausstellung gegenüber der ganz großen Schau. Denn was die zum größten Teil aus dem Besitz des Berliner Kupferstichkabinetts stammenden Blätter entfalten, ist das ewige Drama von Leben und Tod, Glauben und Verzweiflung. Die Frage nach dem Umgang mit dem Alter stellen sich offenbar immer wieder anders. Würde oder Last, wertvolle Erfahrung oder kindischer Verfall: Jede Generation neu scheint um das rechte Verhältnis zu ihren Ahnen zu kämpfen.

In der Renaissance scheinen die Rollen klar verteilt. Die alten Herren sind hoch geehrt, ob ihrer Weisheit und Würde, auch wenn ihnen manchmal die Lüsternheit dazwischenkommt und sie zum komischen Alten mutieren, wie Aristoteles, der sich von Phyllis reiten lässt. Alte Frauen hingegen tauchen zumeist als Zerrbilder auf, sind hässlich, geizig, hinterhältig oder senil. Die Ausstellung zeigt Parzen und Hexen beim nächtlichen Tanz, wunderbare Schreckbilder von Martin Schongauer, Hans Baldung Grien, Matthias Grünewald oder Hans Schäufelein. Die Angst vor der Sexualität der Frau setzt sich offenbar bis ins Alter fort.

Da schlägt Dürer einen anderen Ton an. Das Bild seiner Mutter, die er als 63-Jährige porträtiert, ausgezehrt von einem Leben, das ihr 18 Geburten brachte, und nur drei Kinder, die das Erwachsenenalter erreichten, ist ein Schreckbild und ein Liebesbild. Ein privates Erinnerungsbild, erstaunlich großformatig für diesen Anlass. Es ist wohl das erste realistische Porträt der Neuzeit, das erste auch in einer langen Reihe: so verschiedene Künstler wie Rembrandt und Max Klinger, Lucian Freud und Jonathan Meese haben ihr besonders Verhältnis zur Mutter in anrührenden Werken thematisiert.

Und es ist die verzweifelte Auseinandersetzung des Sohnes mit dem Sterben der Mutter. In einem Gedenkblatt, in der Ausstellung dem Porträt suggestiv gegenübergestellt, hat Dürer den Tod der Mutter geschildert, ganz in der Tradition des „gerechten Sterbens“, nach dem die fromme Frau nach Erhalt der Absolution sanft entschlafen sollte. Allein: Dürers Mutter leidet, der Tod zieht sich hin, voller Schmerz und Qual. Dem Sohn, der die Ereignisse detailgenau am Krankenbett notiert, fließt die Feder über, das Blatt reicht nicht, er dreht es um, kritzelt am Rand weiter, bis zum finalen Eingeständnis: Der Anblick dieser Schmerzen habe ihm die Sprache verschlagen. Und findet erst danach zur Ruhe, mit der Erkenntnis: „In ihrem Tod sah sie viel lieblicher aus als zu Lebzeiten.“ Ein Glaubens-, nicht nur ein Familiendrama.

Dürers Mutter. Kupferstichkabinett, Kulturforum, bis 16. Juli, Katalog (Nicolai Verlag) 25 Euro

Christina Tilmann

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