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Kultur: Die kassenlose Gesellschaft Filmfest Cannes: Michael Moore und sein Gesundheits-Pamphlet „Sicko“

Der Dokumentarfilmer Michael Moore gefällt sich in vielen Rollen. Als hartnäckiger Rechercheur.

Der Dokumentarfilmer Michael Moore gefällt sich in vielen Rollen. Als hartnäckiger Rechercheur. Als Schrecken der Mächtigen. Als Welt- oder zumindest als Amerikaverbesserer. Aber auch als Showman macht er sich nicht schlecht. Unlängst haben zwei kanadische Kollegen ihn in einem Film der Lüge bezichtigt, was heftigen Medienwirbel auslöste. „Es gibt schon ein Dutzend Hass-Dokumentarfilme über mich, da könnte man ein ganzes Festival draus machen!“, sagt Moore in Cannes. Und mit „Sicko“, seinem neuen Film über das US-Gesundheitssystem, wollte er ausdrücklich nicht in den Wettbewerb von Cannes? „Ich bin keiner von den Amerikanern, die immer noch mehr wollen, drei, vier Goldene Palmen“ – und dann reißt es ihn zu einem lautstarken name joke auf eigene Kosten hin – „moore, moore!“

Auf eigene Kosten? Eher zum eigenen Vergnügen. Michael Moore hat ein Heimspiel in Cannes, wo er vor drei Jahren mit „Fahrenheit 9/11“ die Goldene Palme holte. Und er genießt es. In Scharen sind die Journalisten die Treppe raufgejoggt, um sich ihren Platz bei der „Sicko“-Pressekonferenz zu ergattern, und der Dicke enttäuscht sie nicht. Wie steht’s zum Beispiel mit seiner eigenen Gesundheit? „Klar gehöre ich zu jenen zwei Dritteln von Amerikanern, die mal um den Häuserblock spazieren sollten“, sagt er, „aber in den letzten Wochen habe ich 25 Pfund abgenommen: nur noch Obst und Gemüse!“ Auch so könne man sich gegen „das System“ wehren, gegen das böse US-Gesundheitssystem – und für eine Sekunde streift der lustig menschgewordene Doppelwhopper sogar die Rolle des Diät-Papstes über.

„Sicko“ ist ein typisches MichaelMoore-Pamphlet: Das Elend bekämpft der Film vor allem mit Entertainment, ein Schuss moralische Rhetorik inklusive. Weil es in den USA weder gesetzliche Krankenkassen noch eine durch hohe Steuern abgefederte Gratisversorgung für alle gibt, muss das Volk sich teuer privat versichern. Oder man verzichtet darauf, wie 50 Millionen Amerikaner, und bleibt ganz ohne Schutz. Die Folgen: Die profitorientierten Versicherungen feilschen um jede Leistung, und wer nicht zahlen kann, wird von den Kliniken vor die Tür gesetzt. Hillary Clintons Vorstoß zu einem System, das den Standard anderer zivilisierter Länder kopiert, wurde von der Privatkassenlobby durch überweisungsträchtige Pflege der politischen Landschaft vereitelt. So weit, so schlecht. Und so bekannt.

Doch um die Zuschauer aufzurütteln – und es gehört wenig Prophetie zu der Vermutung, dass „Sicko“ sein Publikum dieses Mal ganz überwiegend in Amerika wird suchen müssen –, verzichtet Moore weitgehend auf drastische Fälle und ganz auf Konfrontationsversuche mit Verantwortlichen, sondern setzt verblüffend ausführlich auf Tourismus. Staunend reist er durch die Krankenhäuser Kanadas, Englands und Frankreichs, um seinen Landsleuten die Segnungen eines auf Solidargemeinschaft beruhenden Sozialsystems schmackhaft zu machen.

Privatkassen oder Sozialismus: Das war die Devise der US-Lobby. „Sicko“ setzt ebenso grobschlächtige Bilder vom außeramerikanischen Paradies auf Erden dagegen: Wohlfahrt und Glück allerorten – und zu kerngesunden Turtelpaaren in Pariser Parks intoniert die ohnehin nie pausierende Musikspur Jane Birkins „Je t’aime“.

Solch radikalen Simplifizierungssinn könnte man gleich zu den Krankenakten des Propagandafilms legen, wenn Michael Moore nicht noch eine sardonische Kabarettidee draufgesetzt hätte. Mit ein paar freiwilligen Helfern von Ground Zero, die die Folgeleiden ihres Einsatzes in den USA schlecht versorgt sehen, fährt er Richtung Guantanamo! Denn warum sollte den Helden vom 11. September nicht jene Gratis-Krankenversorgung zuteil werden, die die Regierung den inhaftierten Al-Qaida-Leuten gewährt? Dass das Boot in Guantanamo Bay denn doch beidrehen musste, nun ja; dass man – leider, leider! beklagt der Regisseur treuherzig vor den Journalisten – auf Kuba ausweichen musste, wo die Gruppe vorzüglich versorgt und von der Feuerwehr Havannas in allen Ehren empfangen wurde: Nennen wir es das Kollateralglück des Michael Moore.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen von „Sicko“ gehört freilich, dass die fraglos hochunterhaltsamen Mätzchen dem fraglos hochmoralischen Anliegen Moores schaden. Sein scheinbar kindliches „Warum?“, das ihn etwa noch in „Bowling for Columbine“ zur brillanten Analyse einer paranoisch gelenkten und deshalb waffennärrischen Gesellschaft inspiriert hatte, bleibt in „Sicko“ rein appellativ. Und so flüchtet er sich – ob im Film oder auf der Pressekonferenz in Cannes – in den Momenten resümierender Ernsthaftigkeit in die Predigt, ja, die mitunter messianische Attitüde. Halb Clown, halb Evangelist: Offenbar nur so taugt dieser Michael Moore für die postspaßgesellschaftlich versprengte Weltlinke als eines ihrer letzten Originale.

Einer ganz anderen schillernden Identifikationsfigur hat Barbet Schroeder in der fesselnden Dokumentation „L’avocat de la terreur“ ein Denkmal gesetzt: Jacques Vergès. Der französische Staranwalt verteidigte jahrzehntelang politische Gewalttäter – in seiner Jugend die algerischen Untergrundkämpfer, später palästinensische Attentäter und Galionsfiguren des Linksterrorismus wie Carlos, aber 1983 auch den aus Bolivien ausgelieferten Gestapo-Chef Klaus Barbie.

Das Ego dieses auch mit heute 83 Jahren brillant formulierenden Mannes ist mindestens so groß wie jenes des medienvergnügten Michael Moore; nur macht der Zuschauer hier – vom linken Antikolonialismus über den Antizionismus bis zur Nazi-Nähe – die packende Reise durch ein Leben, das sich jeder kohärenten Ideologie entzieht. Und schon stellt sich Beunruhigung ein, mit anderen Worten: die schönste Einladung zum Denken.

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