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Kultur: Die kreative Klasse

Die Kulturpolitikerin Adrienne Goehler fordert radikal neue Bündnisse zwischen Kunst und Gesellschaft

Frau Goehler, in Ihrer Streitschrift „Verflüssigungen“ verlangen Sie eine radikale Wende im Verhältnis von Politik und Gesellschaft zu Kunst und Wissenschaft. Wollen Sie den Staat auf den Kopf stellen?

Eher seine verfestigten Strukturen aufweichen. Es ist ein Plädoyer gegen das Denken der Politik in Großflächen- und Ewigkeitslösungen und dafür, neue Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten zu erfinden. Wir haben hier im Land ein gigantisches, schöpferisches Potenzial, das als „kreative Klasse“ verstanden werden kann und auf 25 Prozent aller Arbeitenden geschätzt wird, also wahrhaft keine winzige Minderheit. Dieses produktive Vermögen an Können und Wissen verbindet sich bislang noch zu wenig mit der Politik.

Ein hehres Manifest, das allerdings etwas abstrakt anmutet.

Es gibt kaum etwas Konkreteres. Was fällt der Politik im Falle der Rütli-Schule ein? Wiederherstellung der Ordnung durch zwei Sozialarbeiter und Polizisten und drakonische Drohungen. Es gibt aber das Wissen, dass Schule radikal verändert werden muss, und es gibt, in den Köpfen junger Künstler und arbeitsloser Akademiker, jede Menge Ideen für Projektwochen, Theater- und Tanzunterricht, Laborsituationen. Impulse von außen können ungemein motivieren. Für ein Bühnenbild, seine Ausmaße, seine Statik kann ich plötzlich Mathematik brauchen. Wenn ich ein Computerspiel designen will, muss ich mich mit Schrift und Sprache auskennen. Wir können uns viele gelungene Beispiele in Berlin ansehen: Die Choreografin Livia Patrizi arbeitet seit einem Schulhalbjahr mit einem Team von Tänzern in dreißig Klassen, mit großartigem Erfolg. Diese Arbeit zu verankern, würde den Gegenwert einer einzigen Lehrer-Planstelle benötigen. Anstatt Sozialarbeiter und Vertreter der Exekutive als Feuerwehr an eine Schule zu schicken, könnte man dieselben Kosten in kreative, sinnvolle Konzepte investieren.

Wenn all das so einfach ist, warum geschieht es dann nicht?

Weil wir es mit Ressortborniertheiten zu tun haben, die Durchlässigkeiten verhindern. Längst müsste es verwaltungsübergreifende Töpfe geben, in denen die Initiativen von außen nicht zerrieben werden zwischen den Zuständigkeiten, wie die Choreografin Patrizi, die mit ihrer Idee zwischen Schul- und Kultursenat hin und her geschoben wurde. Meine eigene politische Erfahrung hat mir deutlich den Mangel an Durchlässigkeit, an Transparenz und der Freude am Innovativen vor Augen geführt. Die Jugendstiftungen, Kulturstiftungen, die Bundesagentur für Arbeit, die Jobcenter, die Kultusministerien, Schulbehörden – sie müssen enger kooperieren, gemeinsam Projekte fördern, aus denen eine andere Schule entstehen würde.

Ihr Konzept zur Kulturgesellschaft reicht zwar viel weiter, aber bleiben wir mal konkret beim aktuellen Thema Schule. Werden die Lehrer nicht sagen, dass solche Projekte noch mehr Chaos mit sich brächten?

Es gibt viele Lehrer, die Schule ganz anders denken, die eine Zusammenarbeit mit Experten von außen begrüßen, sich dadurch gestützt, ermutigt und entlastet fühlen. Müsste es nicht um Modelle gehen, in denen mehr Beweglichkeit möglich wird und Lehrer für ein paar Jahre an die Hochschulen in andere forschende Zusammenhänge gehen könnten? Und würde dies nicht diesen entwerteten Beruf attraktiver machen? Jemand, der Kunst, Physik oder Literaturwissenschaft „auf Lehramt“ studiert, ist weitaus weniger angesehen als jemand, der später Bildhauerin, Wissenschaftler, Schriftsteller oder Kolumnistin werden will. Das ist so grotesk wie unangemessen.

Ist das auch in anderen Ländern so?

In Finnland, das bei Pisa fantastisch abgeschnitten hat, werden nur die Jahrgangsbesten zum Lehramtsstudium zugelassen. Lehrerinnen und Lehrer sind die ersten und wichtigsten Vermittler zentraler Kulturtechniken – die Sinne benutzen, Lesen, Schreiben, Argumentieren, Sozialverhalten entwickeln –, die wir haben. Sie bilden heute Leute aus, von denen viele niemals auf dem Arbeitsmarkt ihre „Lebensstelle“ finden werden. Umso wichtiger ist es, den kommenden Generationen Selbstbewusstsein, Gestaltungsfähigkeit, Kreativität und Beweglichkeit beizubringen. Unsere Gesellschaft braucht erfüllte, ausgefüllte Menschen, die mit Frustrationen und Konflikten anders verfahren, als Autos abzufackeln oder Lehrpersonal zu bewerfen. Und ich sagen Ihnen: Das alles ist möglich.

Das Gespräch führte Caroline Fetscher.

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