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Die Kunst des Aufhörens: Schluss jetzt!

Es ist nicht leicht abzutreten. Über Meister und Stümper dieses Fachs, nicht nur 2012.

Schon mal von den Dubliners gehört? Die irische Folkband wurde vor 50 Jahren in einem Pub gegründet und sieht heute genauso aus, wie man sich irische Folk-Veteranen so vorstellt, bärtig, zauselig, sympathisch. Am Sonntag wollen die Herrschaften ihr definitiv letztes Konzert geben, in Dublin natürlich.

Man kennt das, diese Bands, die ihre Auflösung bekanntgeben und trotzdem in leicht veränderter Formation wieder auftauchen, die erst die letzte, dann die allerletzte und die allerallerletzte Tour annoncieren, als Zombies ihrer selbst. BeachBoy-Fans können ein Lied davon singen, James-Last-Freunde auch. Dann lieber die Never Ending Tour à la Bob Dylan oder das ewige Leben der Stones.

Dieses Jahr haben Wir sind Helden und Rosenstolz ihr Ende bekanntgegeben, Bier Mösl Blosn luden zum Abschiedskonzert. Klare Ansagen sind da für alle Beteiligten das Beste, für die Fans wie für die Band-Mitglieder, frei nach George Harrisons schlagfertiger Replik auf die wiederholte Nachfrage, wann denn die Beatles mal wieder ...: „Es wird keine Beatles-Reunion geben, so lange John Lennon tot ist.“

Aufhören ist eine hohe Kunst, nicht nur im Pop. Eine Frage des Timings, der Übereinkunft, der Wortwahl, des Stils. 2012 war ein gutes Jahr, um die Kunst des Aufhörens zu studieren, viele haben Schluss gemacht, sind ausgestiegen oder zurückgetreten. Wie in allen Künsten gibt es Meister und Virtuosen dabei, Improvisationsartisten, Spieler und Stümper. Ballack zum Beispiel. Im Oktober gab der Capitano seinen definitiven Abschied vom aktiven Fußball bekannt, nach 267 Bundesligaspielen, 98 Länderspielen, Zank mit Jogi Löw, Hin und Her zwischen Chelsea und Leverkusen, ohne internationalen Titel und ohne offizielles Abschiedsspiel. Ballacks Abgang: kein Finale furioso, eher unaufgeregt, erwartbar – Ende eines Unvollendeten.

Oder Christian Wulff, der peinlichste Aufhörer des Jahres. Am 17. Februar legte er nach Kredit-, Urlaubsdomizil-, und „Bild“-Anruf-Affären das Amt des Bundespräsidenten nieder, nicht gerade freiwillig. Das war beschämend für ihn selbst, das Amt und die gesamte Nation – vom Bettina-Wulff-Nachspiel zu schweigen. Oder das Aus für Schlecker: Erst mussten im März rund 2000 Filialen schließen, dann machte die insolvente Drogeriekette Tabula rasa. Über 5000 Läden traf es im Sommer, 13 200 Beschäftigte verloren ihren Job. Ein Drama ohne Katharsis. Die Schließungen in der Printbranche, die Hiobsbotschaften von der „Final Times Deutschland“ und der FR nehmen sich dagegen fast wie eine Farce aus.

Apropos Theater: Auf der Bühne ist die Endlichkeit seit jeher vorprogrammiert. Katharsis im Theater bedeutet, dass etwas sich überlebt hat. Ein König stürzt, ein Reich geht unter, auf dass eine neue Welt ersteht. Von der „Orestie“ über „Ödipus“ und „Antigone“ bis zu „Hamlet“ oder „Woyzeck“ ist es immer das Gleiche: Am Ende sind die Helden tot, der Vorhang fällt und das Publikum geht nach Hause. Oder der letzte Augenblick dauert eine kleine Ewigkeit lang, wie bei Tschechow oder Beckett, diesen Endspielmachern.

Das Berliner Kulturjahr 2012 war ein Jahr der Abtritte, Übergänge und Neustarts. An der Deutschen und der Komischen Oper sowie am Konzerthaus wechselten die Intendanten, Shermin Langhoff steht in den Startlöchern fürs Gorki-Theater, denn Armin Petras wechselt 2013 nach Stuttgart. Und Matthias Lilienthal sagte dem Hebbel am Ufer Adieu. Er bescherte der Stadt die größte Abschiedsparty der Saison, eine veritable Theatersause, mit Weltausstellung auf dem Tempelhofer Feld und einem 24-Stunden-Marathon, für das die HAU-Leute die ganze Stadt zur Bühne erklärten. Ein Meister der Finissage: Lilienthal ging ohne Not, als es am schönsten war.

Der Bassbariton Thomas Quasthoff zelebrierte einen Abschied der besondern Art. Im Januar gab er bekannt, dass er nicht mehr als Sänger auftreten wird, weil die Gesundheit ihm seinen Qualitätsanspruch nicht mehr zu erfüllen erlaubt. Zur Freude des Publikums trat er jedoch bald darauf in Katharina Thalbachs „Was ihr wollt“-Inszenierung am Berliner Ensemble mit Barockarien auf. Verblüffende Alternative: der freiwillige Übergang von der Profi- in die Amateurliga.

Es ist nicht leicht, im rechten Moment aus dem Rampenlicht zu treten, weil man merkt, man kann nicht mehr so, wie man will. Für Sänger wie für Fußballer – also für alle, deren kostbarstes Instrument der eigene Körper ist – bedeutet es einen Kraftakt, auf die eigene Kunst zu verzichten, um sie nicht zu verraten. Christa Ludwig absolvierte diesen Akt nach fast 50 Jahren Opernkarriere einst mit Bravour, auch Dietrich Fischer-Dieskau oder zuletzt der Pianist Alfred Brendel, um bei der Klassik zu bleiben. Es gibt ja auch andere Bühnen, für Sprechgesang, Rezitationen, Lehr- und Trainerkarrieren.

Auch die großen internationalen Ausstellungen, die Documenta und die Architekturbiennale, atmeten den Geist einer neuen Bescheidenheit. Nicht mehr die Künstler und Architekten waren in Kassel und Venedig die Stars, sondern die Bürger, Besucher, Bewohner. Hier wie dort wurde vor allem poetische, sinnliche, versehrte, kurz: flüchtige Kunst präsentiert, keine Manifestationen, sondern Versuchsanordnungen über die Endlichkeit. William Kentridges Zeitmaschinen-Videoinstallation und wenige Meter weiter Lara Favarettos liebevoll arrangierter Metallschrott am Kasseler Kulturbahnhof – zwei künstlerische Inbilder des Jahres.

Der mysteriöseste Aufhörer 2012

Der mysteriöseste Aufhörer 2012 war Philip Roth. In einem Interview mit dem französischen Magazin „Les Inrockuptibles“ gab der 79-jährige amerikanische Schriftsteller Anfang Oktober bekannt, der 2010 erschienene Roman „Nemesis“ sei sein letztes Buch. Er habe seine Lieblingsautoren wiedergelesen, Dostojewski, Hemingway, Turgenew und Joseph Conrad, auch seine eigenen Bücher, er sei recht zufrieden, aber nun sei es gut. Seltsamerweise machte das Interview erst Wochen später die Runde, der Schrecken war dafür um so größer. Ausgerechnet Roth, der ewige Nobelpreisanwärter, der zuverlässig neue Werke publiziert und nicht an Altersschwäche leidet wie der an Demenz erkrankte Gabriel Garcia Marquez? Der „New York Times“ erzählte Roth dann noch von seinem täglichen Frust. Es sei wie beim Baseball, „zwei Drittel der Zeit geht es schief“.

An Roths Computer klebt deshalb ein Merkzettel mit dem Satz „Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei“. Ein Mann, der sich förmlich zum Schweigen zwingt, während viele Leser sich wünschen, er möge mit dem Aufhören doch schnell wieder aufhören. Genau das, Berliner erinnern sich, hatte Ende 2010 die Rockband Knorkator verkündet, „Deutschlands meiste Band der Welt“ (Eigenwerbung). Die selbstironische Variante des Doch-Immer-Weitermachens: Nachdem Knorkator Schluss mit dem Schlussmachen machten, brachten sie das Album „Es werde Nicht“ heraus.

Die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer weist in ihrem Buch „Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens“ (Primus Verlag, 2008) auf den Zusammenhang zwischen Aufhören, Hören und Gehorchen hin. Wer aufhört, desertiert. Verweigert den unaufhörlichen Lauf der Dinge, das „galoppierende Vorwärts“ (Hans Jonas), macht sich frei von Zwängen und Pflichten, vom „Rauschen der Betriebsamkeit“. Aufhörer sind Süchtige auf Entzug, Freiheitskämpfer in eigener Sache. Sie leugnen den Tod nicht, den mächtigsten Schlussmacher der Welt, aber sie bieten ihm die Stirn und treiben den Teufel mit dem Beelzebub aus.

Der Film des Jahres – und der am leidenschaftlichsten diskutierte – erzählt auf seine Weise vom Aufhören: In „Liebe“ von Michael Haneke geht eine alte Frau aus dem Leben, sie will nicht mehr nach dem zweiten Schlaganfall, und ihr Mann steht ihr zur Seite. Sie leben in einer Pariser Altbauwohnung, sie war Klavierlehrerin, sie hören Musik, aber oft hören sie sie nicht zu Ende. Bevor Jean-Louis Trintignant seiner von Emanuelle Riva gespielten Frau dabei hilft, mit dem Leben aufzuhören, erzählt er ihr eine Geschichte. Wie er als Junge im Ferienlager stundenlang im Speisesaal sitzen bleiben musste, weil er den Milchreis nicht essen wollte. Und wie er mit der Mutter verabredet hatte, dass er Sternchen auf die Urlaubspostkarte malt, falls es ihm im Lager nicht gefällt. Falls er raus will, vor der Zeit.

Der Hollywoodfilm des Jahres ist „Skyfall“, der neue Bond. M, die Chefin, bekommt ein Begräbnis erster Klasse, Judi Dench ist damit raus aus der Serie, nach 17 Jahren und sieben Abenteuern mit 007. Über das Altern, die Verwundbarkeit und Daniel Craigs Mut zur Schwäche ist viel geschrieben worden. 50 Jahre Bond: Die Jubiläumsfolge verbreitet Endzeitstimmung. Sogar Bonds legendärer Aston Martin muss beim Showdown dran glauben, der in schottischen Hochmooren angesiedelt ist, einer uralten europäischen Kulturlandschaft – vor den Kulissen einer düsteren Lodge, Bonds Elternhaus.

Alles ist vergänglich: eine Action-Moritat in morbidem Ambiente, mit Familienfriedhof gleich nebenan. Das Alte macht dem Neuen Platz, einer sexy Miss Moneypenny, einem blutjungen Q (Ben Wishaw), der für sein erstes Treffen mit Bond ausgerechnet die National Gallery wählt. Vor einem Turner-Gemälde philosophieren die beiden über Melancholie, schrottreife Kriegsschiffe und die Unentrinnbarkeit der Zeit. Alter, sagt Q, sei keine Garantie für Effizienz. Jugend, sagt Bond, ist keine Garantie für Innovation. Die Schlussmacher und die Pioniere, am Ende sind sie Komplizen.

Letzte Meldung: Nach ihrem Abschiedskonzert treten die Dubliners doch noch mal auf, gleich einen Tag später, an Silvester, im Fernsehen. Genug ist nie genug. Na denn, guten Rutsch!

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