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Kultur: Die Legende von Kassel Vor 50 Jahren eröffnete die erste Documenta

1955 fand die Bundesgartenschau in Kassel statt, jener nordhessischen Industrie- und einstigen Residenzstadt, die im Krieg fast vollständig zerstört und danach als „autogerechte Stadt“ wiederaufgebaut wurde. Als Begleitprogramm organisierte der Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode eine internationale Kunstausstellung.

1955 fand die Bundesgartenschau in Kassel statt, jener nordhessischen Industrie- und einstigen Residenzstadt, die im Krieg fast vollständig zerstört und danach als „autogerechte Stadt“ wiederaufgebaut wurde. Als Begleitprogramm organisierte der Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode eine internationale Kunstausstellung. Er nannte sie Documenta, sollte sie doch die internationale Kunstentwicklung seit der Jahrhundertwende dokumentieren. Heute vor 50 Jahren, am 15. Juli 1955, wurde sie eröffnet.

Die pädagogische Absicht reichte tiefer. Es galt, den über die zwölf Jahre des NS-Regimes abgerissenen Faden wieder aufzunehmen, der Deutschland vor 1933 mit der internationalen Moderne verbunden hatte. Der Publizist und Mit-Organisator Werner Haftmann schrieb im Katalog: „Es ist nahezu ein Menschenalter her, dass mit der Dresdner Ausstellung von 1927 ein ähnliches Unternehmen hierzulande versucht wurde, und von dem im letzten Jahrzehnt so mächtig ausgeweiteten Ausstellungsleben in den europäischen Ländern blieb Deutschland weitgehend ausgeschaltet.“ Nonchalant überging er in diesem Satz das „Dritte Reich“, die Verfemung der Moderne, die Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937, den Krieg und die mühsame Rückkehr ins Kulturleben. Das entsprach dem Zeitgeist. Das dunkle braune Loch sollte übersprungen werden. Picasso, Chagall und Miró, Nolde, Beckmann und Nay – insgesamt 670 Werke von 148 Künstlern aus sechs Nationen – wurden als Kronzeugen für eine unzerstörbare Tradition der Moderne aufgerufen .

Aus der Retrospektive wurde Zeitgenossenschaft. Denn der Erfolg der ersten Documenta war mit 130000 Besuchern derart groß, dass der nimmermüde Bode vier Jahre später eine zweite ausrichtete. Damit begründete er eine Tradition, die heute so unangefochten ist wie allenfalls noch die der venezianischen Biennale. Die nächste Documenta konzentrierte sich auf die Gegenwart – und dabei sollte es fortan bleiben.

1955 wollte man wenig bis nichts von den Abgründen des Nazi-Reichs wissen; auch nicht, dass die letzte vorangegangene Großausstellung moderner Kunst in Deutschland durchaus nicht 1927 stattgefunden hatte, sondern eben jene denunziatorische „Entartete Kunst“ von 1937 war. Die hatte, von München aus, das Deutsche Reich durchwandert und – Ironie der Geschichte – mehr als zwei Millionen Besucher mit der Moderne meist überhaupt erst bekannt gemacht.

Bodes Einrichtung der ersten Documenta ist legendär. Wie die Schwarz- Weiß-Aufnahmen von damals zeigen, gelang es ihm in nie wieder erreichter Meisterschaft, die klassisch gewordene moderne Kunst in die Kargheit des kriegszerstörten Museums Fridericianum hinein zu inszenieren. Weiß getünchtes Mauerwerk, leise wehende Vorhänge, knappe Sockel und kantig in den Raum gestellte Wände gaben der Moderne die Würde des Widerständigen, auch der Bitternis, die etliche der hier vertretenen, wenige Jahre zuvor ins Exil gezwungenen Künstler durchlitten hatten.

Es war ein historischer Zufall, dass ausgerechnet Kassel, damals in Randlage zur nahen DDR, den Anschluss an die Kunstgeschichte herstellte. Ohne Arnold Bode wäre die Stadt Kunstprovinz geblieben. Später entglitt ihm die Documenta, mit der vierten Ausgabe 1968, jenem symbolischen Jahr des gesellschaftlichen Wandels. Die Fernwirkung der Premiere von 1955 übertraf ihre unmittelbare Resonanz jedoch bei weitem: Sie ist zur Legende geworden – und stellte tatsächlich den Anschluss an die verfemte Moderne wieder her. Mit der Documenta bekannte sich die Bundesrepublik zur Kunst der Gegenwart. Sie war eine Großtat, quasi aus dem Nichts heraus – und ein Wegweiser für die Zukunft.

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