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Kultur: Die Letzte macht das Licht an

Peter Konwitschnys grandiose Aufführung beschließt in Stuttgart den "Ring" der vier RegisseureChristine Lemke-Matwey So ist es uns schon sehr lange nicht mehr ergangen. Eigentlich seit den Tagen frühester Jugend nicht mehr, da wir selbst noch frisch und empfindsam waren, biegsam in der Seele und begierig, der Welt ein Spiegel zu sein.

Peter Konwitschnys grandiose Aufführung beschließt in Stuttgart den "Ring" der vier RegisseureChristine Lemke-Matwey

So ist es uns schon sehr lange nicht mehr ergangen. Eigentlich seit den Tagen frühester Jugend nicht mehr, da wir selbst noch frisch und empfindsam waren, biegsam in der Seele und begierig, der Welt ein Spiegel zu sein. Was ist geschehen? Da breitet ein Regisseur, Peter Konwitschny, seine Lesart von Wagners "Götterdämmerung", diesem opus summum des 19. Jahrhunderts, vor unseren Füßen aus - und wir wissen nicht, ob wir es mit einer Ladung Ziegelsteine oder einem Scherbengericht zu tun haben, sind bis zum erschreckenden Ende und weit über dieses hinaus von der Angst, ja vom Schmerz besessen, das Ganze nicht als Ganzes zu fassen zu kriegen. Mit den eigenen Interpretationen am Ende zu sein. Das ist die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Über die Götter wie über uns Menschen.

Es gibt Aufführungen, die kann man sich bequem vom Leibe halten - weil sie Aufführungen bleiben wollen und sich in großer glänzender Oper üben. Und es gibt Aufführungen, die das eigene Medium überwinden, indem sie die Membran zwischen Kunst und Leben kategorisch durchstoßen. In solchen Augenblicken ist es ganz gleich, ob wir es weiterhin mit Richard Wagner zu tun haben und mit seinem als gigantomanisch verschrienen Abgesang auf eine kläglich scheiternde, patriarchalisch verknöcherte Weltordnung Anno 1876 - oder nicht doch, unverhofft, mit dem Verlust der Natur, mit Männern und Frauen und der heillosen Überfrachtung unserer allerletzten ausgelaugten Mythen. In solchen Augenblicken ist die Oper plötzlich wie das Leben: sehr verquer, sehr schwer, furchtbar tragisch und doch, in Sekunden der Erleuchtung, auch ganz leicht und frei und folkloristisch komisch. Eine neuer, unverstellter Blick - auf Wagners geteilte Welt?

Dabei übt Konwitschny keine Kapitalismus-Kritik wie weiland Patrice Chéreau im Bayreuther Jahrhundert-"Ring"; er vermählt nicht Macht mit Psychoanalyse wie Ruth Berghaus in Frankfurt; er verliert sich nicht in futuristischen Brimborien à la Nikolaus Lehnhoff in München; und auch der Postmoderne, wie Rosalie und Alfred Kirchner sie uns zuletzt auf dem Grünen Hügel weismachen wollten, erteilt er ein harsche Abage. Konwitschny nimmt Wagner wörtlicher noch als bloß beim Wort - und zeigt Menschen in Deformation. Es treten hier die naiven Bärenfellträger - von denen allerdings nur mehr einer übrig ist, nämlich Siegfried - gegen die Taktierer an, gegen die Jacket- und Krawattennadelträger vom Schlage eines Hagen (mächtig: Roland Bracht) oder Gunther (sehr elegant: Hernan Iturralde), es steigen die Liebenden gegen die ewig Hasserfüllten in den Ring, die Geldgierigen gegen die Besitzlosen.

Die Dimension dieser Existenzkämpfe ist bei Konwitschny immer kosmisch und spießig-kleinbürgerlich zugleich: In der notorischen Abwesenheit des Göttlichen, in der Verneinung von Glaube, Liebe und Hoffnung, in der selbstherrlichen Verleugnung jeder Utopie findet sich der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen - und verzweifelt, brennt aus, ohne es recht zu merken. Da wirkt es allenfalls noch zynisch und grotesk, wenn ausgerechnet Alberich (John Wegner) zu Beginn des zweiten Aktes mit wallenden Jesuslocken auf Knien dahergerutscht kommt: ein Gotteszwerg, unser aller Erlöser in seiner verkrüppeltsten, pervertiertesten Gestalt? Als hätte es ihn nie gegeben, verschwindet er unter Hagens traurigen Augen alsbald wieder in der Versenkung.

Bert Neumann, der Ausstatter, hat der Stuttgarter "Götterdämmerung" eine momentweise fast genialisch anmutende, schwarze Kiste auf die Bühne gebaut. Mal ist diese eine Art Camera obscura, durch deren schmale Schlitze man Jung-Siegfried mit den Rheintöchtern (Helga Rós Indridadottir, Sarah Castle, Janet Collins) in der Verwandlung zum ersten Akt fröhlichen Schabernack treiben sieht; mal ist sie, einer hölzernen Scheune oder Tenne gleich, die Halle die Gibichungen, wo die Männer düstre Fackeln schwingen und Kuchen backende Frauen bunte Kittelschürzen tragen; und mal zeigt sie, auf einer Filmtapete an ihrer Schmalseite und bewusst hart am Kitsch, was die Welt der Welt schon lange schuldig bleibt: das Plätschern eines Baches, das Wogen saftiger Grashalme, das güldene Funkeln des Sonnenlichts. Mit Vorliebe dreht sich diese Kiste um sich selbst - stoisch, stumm und vollkommen ungerührt ob aller grausligen Ereignisse im eigenen Inneren.

Siegfrieds Tod und Trauermarsch münden so in ein grandioses Sittengemälde: Vorne der unter lautem Stöhnen sterbende Held, in Gunthers Armen als leibhaftige Pietà geborgen, drum herum die bangenden, zagenden, zitternden Mannen, und dahinter der leere kreisende Karton. Auch Männer zeigen Gefühl, sagt Konwitschny - wenngleich nur Männern gegenüber und mit leise kullernden Bierflaschen im Hintergrund. Dass das projizierte Bächlein drehend-kreisend mal von rechts nach links und mal von links nach rechts fließt, mag hier ebenso als Synonym für eine gravierende Irritation gelten wie die Tatsache, dass Hagens Schergen lange vor Gutrune (Eva-Maria Westbroek mit einem Lächeln wie Lady Di und großer, samtig-lyrischer Sopran-Emphase) ihre Jackets über Siegfrieds Leiche breiten. Wenn Helden sterben, dann trägt die ganze Welt Trauer - und wenn die Heldenhaftigkeit nur mehr darin besteht, den Narren zu geben, den Clown, das Kind, das gern mit dem Hornisten im Graben schäkert oder dem Saal neckisch mit dem Zeigefinger droht.

Siegfried weiß nicht, dass er nichts weiß. Das macht ihn glücklich, und in der Tat kann Albert Bonnema beim Reiten auf Grane, dem geliebten hölzernen Steckenpferd, so sonnig übers ganze Gesicht strahlen, dass dieser Ausdruck, dieser dramatische Gestus alle stimmlichen Nöte schlagartig vergessen macht. Was sind schon ein paar gequetschte Höhen, was ein paar allzu hektische Vibrati gegen eine solche schauspielerische Statur?

Schade nur, dass Lothar Zagrosek, der mit dem Abschluss der "Ring"-Tetralogie am Pult des Stuttgarter Staatsorchesters zweifellos zu einer sehr eigenen, ausgesprochen vitalen und säuberlich durchdachten Form gefunden hat, just im Trauermarsch die Zügel nicht fest genug in der Hand hielt: Wo die Musik ein einziger erratischer Block sein müsste, eine feste Burg, da zog er merklich das Tempo an. Überhaupt schien Zagrosek - bei aller Beseeltheit einzelner Bläser-Solisten, bei aller hinreißenden Präzision des Chores! - von Neumanns Optik und Konwitschnys vielfach bestrickender Naivität wie paralysiert. Etwas mehr Aura, etwas mehr Gewicht und Schwere in den klar herausgemeißelten Strukturen - und die Szene hätte an Innenspannung noch gewonnen.

Wo restlos alle Sänger - von Tichina Vaughns üppiger, gutural timbrierter Waltraute bis hin zu den drei Nornen (Janet Collins, Lani Poulson, Sue Patchel), die vor der Wagnerkiste gleichsam auf Platte leben - buchstäblich um ihr Leben spielen, da gab es an diesem heftig bejubelten Abend eine Königin. Ob Luana DeVol nun aussieht, als wäre sie einem älteren Fellini-Film entsprungen und also wie das blonde Super-Weib schlechthin, ob sie auf ihrem Feuerbett (einer kleinen Bretterbude mit Gebirgspanorama und flatterndem Lametta) so etwas wie die gute Zenzi aus dem Komödienstadl gibt, oder ob sie im zweiten Akt von Gunther wie ein Stück Vieh vor die Gibichungen gezerrt wird - stets ist ihre Brünnhilde voll präsent. Noch im Augenblick größter Demütigung, als der verkleidete Siegfried ihr Gewalt antut, wahrt sie ihre Würde, indem sie ihre Unterhose eigenhändig herunter lässt, und durch diese gleichsam an den Füßen gefesselt, erhobenen Hauptes von dannen schreitet.

Zum Schlussgesang erscheint DeVol in gleichsam privater Montur, als Sängerin und Lehrmeisterin der Zukunft. Scheucht den Chor von der Bühne, weckt die Toten wieder auf, liebäugelt ein letztes Mal mit dem Ring, der übrigens das ganze Stückng bloß ein schlichter Ehering war - und zieht sich mit einem letzten "Heijajaho! Grane!" ihres nicht immer schönen, aber erstaunlich konditionsstarken Soprans langsam zurück. Was bleibt, ist Fließtext, gleißendes Saallicht, sind die Original-Regieanweisungen auf einer riesigen Leinwand. Wagner lesen? Wagner selber lesen? Was für ein betörendes, verstörendes Versprechen!Nächste Vorstellungen: 17. und 26. März.

Christine Lemke-Matwey

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