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Kultur: Die Lust des Pointillisten

Alejandro González Iñarritu über die Arbeit an „21 Gramm“

Viele Regisseure schwören auf ihre kulturellen Wurzeln. Sie gehen in Ihren Filmen lieber gleich auf die ganz großen Themen und aufs Universelle.

Die Gefühle der Menschen sind überall gleich. In „21 Gramm“ und „Amores Perros“geht es um Verlust, Hoffnung und Schuld. Da sollte man, finde ich, Folklore und Lokalkolorit vermeiden.

Sie verzichten auch auf eine chronologische Erzählstruktur, Ihr Film wirkt wie ein riesig verstreutes Puzzle aus Vor- und Rückblenden. Wie behielten Sie da den Überblick?

Indem ich den Film so chronologisch wie möglich drehte.

Da hätten Sie die Geschichte ja auch chronologisch präsentieren können.

Eben nicht, ich brauchte diese fragmentarische Struktur, um dramatische Spannung aufzubauen und die Wahrheit nur Stück für Stück preiszugeben. Der Zuschauer soll aktiv am Film teilnehmen und die grossen Ellipsen selber mit Sinn füllen.

Aber bringen Sie damit die Zuschauer nicht total durcheinander?

Das stimmt schon, viele Zuschauer sind in der ersten halben Stunde von „21 Gramm“ völlig orientierungslos. Aber ich will nicht, wie das viele Produzenten tun, die Intelligenz des Publikums minimisieren. Denn oft muss man ja gar nichts erklären. Ich arbeite lieber wie ein pointillistischer Maler. Aus tausenden von winzigen Punkten setzt sich das Bild im Kopf des Zuschauers zusammen.

Ziemlich anstrengend.

Ich mag Brüche. Auch wir springen bei unseren Unterhaltungen doch ständig hin und her, von Thema zu Thema und zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Eine meiner Tanten erzählt ihre Geschichten immer streng chronologisch – unglaublich langweilig ! Mein Vater aber erzählte die immerselben Geschichten immer auf andere Art und Weise. Das hat mich geprägt.

„21 Gramm“ ist Ihr erster Hollywood-Film. Werden Sie als mexikanischer Autorenfilmer da jetzt zum Auftragsregisseur?

Ich arbeite mit großen Studios, aber nicht für sie. „21 Gramm“ habe ich alleine entwickelt – und hatte dabei dieselbe künstlerische Freiheit wie bei meinem Debüt „Amores perros“. Ich hatte sogar den „final cut“.

Wie haben Sie mit Naomi Watts gearbeitet? Sie gibt in dem Film ja eine wahre Leidensfrau.

Naomi hat eine unglaubliche Bandbreite. Sie kann die unterschiedlichsten Gefühle spielen. Sie wirken niemals künstlich, sondern scheinen direkt von Herzen zu kommen. In den Drehpausen bereitet sie sich mit Musik aus ihrem Walkman vor und stürzt sich dann mit vollem Einsatz in jede Szene.

Sean Penn lebt in „21 Gramm“ mit einem implantierten Herzen. Kann man sich in die Gefühls- und Lebenswelt einer solchen Figur überhaupt hineindenken?

Das Einzige, was man sicher sagen kann: Menschen mit einem fremden Herzen empfinden vor allem Schuld und Verpflichtung. Auch die Figur, die Sean Penn in dem Film verkörpert, fühlt sich schuldig, dass sie nur durch den tragischen Tod eines anderen eine zweite Chance zum Leben erhält.

Und die Gefühle selber? Wenn sie wirklich aus dem Herzen kommen, wie man sagt, liebt man dann mit einem fremden Herzen vielleicht andere oder anders?

In manchen Büchern wird der Glauben daran verbreitet, aber ich finde das ein wenig zu schmalzig. Andererseits bin ich sicher, dass jeder Mensch, der ein fremdes Organ empfängt, eine seltsam ambivalente Beziehung zum Spender entwickelt und sich auch zu ihm hingezogen fühlt.

Wenn Sie so gegen Kitsch sind: Warum verbreiten Sie dann den Glauben, dass die Seele 21 Gramm wiegt, wenn sie beim Tod den Körper verlässt?

Irrtum, die 21 Gramm bezeichnen Gewicht der Luft, die wir ein- und ausatmen. Sie sind der Atem, der unser Leben ausmacht.

Das Gespräch führte Marcus Rothe.

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