zum Hauptinhalt

Kultur: Die Metro und die Magistralen

Erst wollte die Sowjetunion die „sozialistische Stadt“. Ab 1931 zählte allein Moskaus Ausbau zur Prachtmetropole. Ein Berliner Forschungsprojekt untersucht die politischen Motive dieser radikalen städtebaulichen Wende

Die Bauweise der Stalinzeit, lange als „Zuckerbäckerstil“ verlacht, erregt im Westen seit einigen Jahren die Begeisterung eines von der Moderne erschöpften Publikums. Mit der Ausstellung „Tyrannei des Schönen“ zelebrierte das Wiener Museum für angewandte Kunst 1994 geradezu ein Fest der überbordenden Stalin-Architektur, ließ aber die Politik dieser Jahre völlig aus dem Blick.

Die Kenntnis der Architektur hat seither immer weiter zugenommen. Die ihnen zu Grunde liegenden stadtplanerischen Leitbilder hingegen blieben kaum beachtet. Diese Lücke will ein Forschungsprojekt an der Technischen Universität Berlin schließen, als dessen Ergebnis jetzt das von Harald Bodenschatz und Christiane Post herausgegebene Buch „Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929 – 1935“ vorliegt. Es ist ein monumentales Werk von 416 großformatigen Seiten, das seinen wissenschaftlichen Anspruch nicht zuletzt mit 2187 (!) Anmerkungen dokumentiert.

„In einer äußerst kurzen Zeitspanne zwischen 1929 und 1935 vollzog sich einer der radikalsten, umstrittensten und folgereichsten Paradigmenwechsel im 20. Jahrhundert, dessen Dimension einzigartig war“, nimmt die Einleitung das Ergebnis vorweg. „Dieser für die sowjetische, ja europäische Städtebaugeschichte entscheidende Prozess des Umbruchs ist bislang nur fragmentarisch dokumentiert und reflektiert worden“.

Die insgesamt fünf Autoren beziehen in ihren – in Darstellung und Bewertung einander bisweilen überschneidenden – Beiträgen, den Wechsel vom Ideal der sozialistischen Stadt zum Rückbezug auf die traditionelle Stadt auf die dramatische politische Entwicklung der Jahre 1929 bis 1935; gleiches gilt für die Konzentration auf den Umbau Moskaus „als Hauptstadt der UdSSR und der kommunistischen Weltbewegung“. Damit kehren sie von der gängigen Stilkritik ab und zeichnen die Entwicklung zum Primat der Politik, also zum „Primat der kommunistischen Parteiführung“ nach.

Zunächst spielte der Städtebau in der jungen Sowjetunion kaum eine Rolle. Mit der forcierten Industrialisierung im Rahmen des 1. Fünfjahresplans ab 1929 indessen kam es zum bereits zuvor eingeleiteten, jetzt aber in großem Umfang angeordneten Bau von Fabrikstädten. Dabei halfen vor allem die Amerikaner. Albert Kahn, der Hausarchitekt der Detroiter Automobilindustrie, legte mit über 500 Fabriken „den Grundstock für die gesamte sowjetische Industrialisierung“. Ab 1929 wurde – wiederum mit amerikanischer Hilfe – die Industriestadt Magnitogorsk aus dem Boden des Ural gestampft. Ernst May, zuvor Frankfurter Stadtbaurat und 1930 mit seiner „Brigade May“ voller Hoffnung nach Sowjetrussland übersiedelt, wurde gegen russische Konkurrenz für die Planung der Stadt verpflichtet, aber bereits 1931 wieder ausgebootet.

Die Arbeiter, meist ungelernte Bauern aus den asiatischen Republiken, vegetierten unter unvorstellbaren Bedingungen dahin, während das Leitungspersonal zunehmend Privilegien genoss. Die ökonomischen Mittel reichten für kaum mehr als das gigantische Hütten- und Stahlwerk. Das Buch verschweigt nicht, dass es ein Zwangsarbeiterlager unter Aufsicht der Politischen Polizei GPU gab, stacheldrahtumzäunt und mit zeitweise 20000 Häftlingen.

Für Moskau gab es Ende der Zwanziger Jahre zahlreiche Vorschläge zur Umgestaltung als „sozialistische Stadt“. Sie tragen den Stempel der Ultramoderne, bis hin zur Anlage einer ausdrücklich als „Schlafstadt“ konzipierten ,„Grünen Stadt“ an der Peripherie. Konstantin Melnikow wollte sie als „Stadt rationalisierter Erhohlung“ anlegen. Es war die Hoch-Zeit der Desurbanisten, die die Stadt entstädtern und alle Lebensbereiche rational regeln wollten.

Genau darauf zielte die Rede, mit der der Moskauer Parteisekretär und Stalin-Vertraute LasarM.Kaganowitsch 1931 die städtebauliche Wende einleitete. „Es ist überflüssig zu beweisen, dass das ganze Geschwätz über das Absterben, die Zerstückelung und die Selbstliquidierung der Städte ein Unsinn ist. Mehr als das – es ist politisch schädlich“, donnerte Kaganowitsch. Er forderte, die Kommunalwirtschaft zu entwickeln und in „einen einheitlichen Plan“ zu fassen. Bezog sich seine Kritik vordergründig auf das Chaos der Moskauer Versorgung, so stand dahinter doch die Abkehr von jeglicher Moderne. Fortan, so auch die Jury des noch offenen Wettbewerbs für einen „Palast der Sowjets“, sollte „die Größe unserer sozialistischen Epoche durch Monumentalität, Geschlossenheit, Einfachheit und Schönheit zum Ausdruck kommen“. Gebaut wurde der Palast nie, wohl aber ab 1931 die berühmte U-Bahn, die Metro, die den 1. Fünfjahresplan „als Bild und Raum erfahrbar machen“ sollte, wie die Autoren interpretieren.

Dieser ebenso rasche wie umfassende Paradigmenwechsel ist nur erklärlich vor der „endgültigen Durchsetzung der überstürzten Industrialisierung und Kollektivierung“. Das Land geriet an den Rand des Bürgerkriegs; der Repressionsapparat wurde massiv verstärkt. Bis Ende 1931 wurden bis zu sechs Millionen Landbewohner zwangsumgesiedelt. Durch erzwungene Getreidelieferungen kam es insbesondere in der politischen unruhigen Ukraine zu Hungersnöten mit sechs Millionen Todesopfern. „In diesem Kontext nahm auch das System der Arbeitslager einen großen Aufschwung“, konstatieren die Autoren. „Die Gefangenenökonomie war ein zentrales Merkmal des 1. Fünfjahrplans. Für 1933 kann die Zahl der Häftlinge in sowjetischen Arbeitslagern auf rund zwei Millionen geschätzt werden. Das unter Stalin aufgebaute staatssozialistische System setzte seine Wirtschaftpolitik mit Hilfe radikaler Ausbeutung und Terror durch.“

Stalin ging Mitte 1931 die „Frage der Gleichmacherei" an: Mit einem Male wurden Löhne differenziert, Anreize geschaffen, Privilegien verteilt, um die benötigten Spezialisten zu gewinnen. „All diese Maßnahmen“, resümiert das Buch, „implizierten letztlich eine Abkehr von einer Idee der sozialistischen Stadt, in der alle gleich waren und allen die gleichen Lebens- und Wohnbedingungen anzubieten sind.“

Es begann die Umgestaltung Moskaus im Sinne der symbolischen Vorwegnahme einer leuchtenden Zukunft. Der Generalplan von 1935, dessen Urheberschaft Stalin angedichtet und der damit sakrosankt wurde, sah den großzügigen Ausbau der Hauptstadt mit festlicher Architektur, allerdings auch repräsentativen Wohnhäusern entlang den auf Boulevardbreite gebrachten Magistralen vor. Kehrseite all dieser Maßnahmen war der Abbruch unzähliger historischer Bauten, darunter vieler wertvoller Zeugnisse russischer Baukunst. Zur Mitte der Dreißiger Jahre waren in Moskau fast die Hälfte der 250 Kirchen und Klöster zerstört. Selbst vor dem Abriss der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz wollten einige Planer nicht zurückschrecken.

Was auf diese Weise entstand, war eine – im übrigen autogerechte – Stadt mit riesigen Plätzen, nicht zuletzt für Aufmärsche. Durch den massenhaften Zuzug entwurzelter Bauern verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die erdrückende Mehrzahl der Einwohner, während sie sich für die Elite von Partei und Technokratie deutlich besserten. Einzig an der märchenhaft aufgeputzten Metro hatten alle Moskowiter Anteil.

Das Verdienst der Untersuchung liegt in der politischen und sozialhistorischen Perspektive. Der Wandel im Städtebau erweist sich als Ergebnis der allgemeinen Politik und nicht länger als Geschmacksentscheidung. Die Autoren verhehlen nicht ihre Sympathie für ihren Forschungsgegenstand, verschweigen aber mitnichten die terroristische Praxis der Diktatur.

Ihr abschließendes Urteil berührt sich dann fast wieder mit der westlichen Begeisterung für die „Tyrannei des Schönen“: „Was den Städtebau der Ära Stalins auszeichnet, ist der extreme Zentralismus, die Fokussierung auf Moskau, die Fokussierung Moskaus, ja der Sowjetunion und am liebsten der ganzen Welt auf ein zentrales Gebilde, das weniger ein Gebäude als Monument war – den Palast der Sowjets, der niemals gebaut wurde. In diesem Sinne war der Städtebau Stalins die vielleicht extremste Variante eines neobarocken Städtebaus im 20. Jahrhundert.“

Harald Bodenschatz/Christiane Post (Hrsg.): Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929 – 1935. Verlagshaus Braun, Berlin 2003. 416 S., 350 Abb., geb. 98 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false