zum Hauptinhalt

Verbrecher JAGD: Die Morde der anderen

Ob Raymond Chandler sich das so vorgestellt hatte, als er vor sechzig Jahren forderte, den Kriminalroman zur real fiction zu machen? Im Moment kann man als Krimileser der sogenannten Realität kaum ausweichen.

Ob Raymond Chandler sich das so vorgestellt hatte, als er vor sechzig Jahren forderte, den Kriminalroman zur real fiction zu machen? Im Moment kann man als Krimileser der sogenannten Realität kaum ausweichen. True crime boomt: Unter dem schlichten Titel „Mord“ erzählt der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber zum Beispiel seine mutmaßlich grausamen „Geschichten aus der Wirklichkeit“. Oder der Gefängnisarzt Joe Bausch berichtet in „Knast“ von den „seelischen Abgründen“ der Häftlinge in der Justizvollzugsanstalt Werl. Und: Josef Wilfling – angeblich ein „legendärer Mordermittler“ – verrät in „Unheil“, warum „jeder Mensch zum Mörder werden kann“. Gut geschrieben sind diese Feierabend-Bekenntnisse meistens nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass die krass zugespitzten Einzelfallstudien, aus denen diese Bestseller bestehen, in erster Linie einen beruhigenden, gar herzerwärmenden Effekt auf ihre Leser haben. Sie erzählen von einer Wirklichkeit, die eben nicht die eigene ist. Es wird natürlich nicht jeder Mensch zum Mörder. Das ist die frohe Botschaft: „Echte“ Verbrechen begehen immer die anderen.

Merle Krögers Thriller „Grenzfall“ (Ariadne, Hamburg 2012, 347 S., 11 €) müsste man im Vergleich dazu wohl als Anti-true-crime bezeichnen – obwohl ihm ein tatsächliches Verbrechen zugrunde liegt. Am 29. Juni 1992 finden Erntearbeiter in einem Kornfeld in Vorpommern zwei Leichen. Bei den Toten handelt es sich um Grigore Velcu und Eudache Calderar, zwei Roma, die nachts mit anderen illegal die Grenze zwischen Polen und Deutschland überquert haben. Sie sind von Jägern erschossen worden, die die Gruppe der Flüchtlinge angeblich mit einer Herde Wildschweinen verwechselt haben. Sieben Jahre dauert der Prozess – und endet mit einem Freispruch für die Schützen. Mit Philip Scheffner hat Merle Kröger über die Vorfälle zunächst den Dokumentarfilm „Revision“ gedreht, der gerade erst in die Kinos gekommen ist. Es geht um Rassismus, dilettantische Ermittlungen und die erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber den in Rumänien lebenden Angehörigen der Opfer: ein deutsches Trauerspiel.

Die Frage, was in jener Nacht im Sommer 1992 wirklich passiert ist, kann die Dokumentation auch nicht beantworten. Merle Kröger – die nicht nur Filme macht, sondern auch Kriminalromane schreibt – hat sich darum auf die Suche nach einer Geschichte gemacht, „in der sich dokumentarische Fäden von damals fiktiv ins Heute spinnen“, wie sie im Nachwort von „Grenzfall“ erklärt. Mit Raymond Chandler gesagt: Es geht um real fiction. Kröger hat Namen geändert, Orte verlegt – und einen Zeitsprung ins Jahr 2012 gemacht. Adriana, die (fiktive) Tochter eines der Toten, macht sich auf nach Kollwitz, einer (fiktiven) Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, um Rache zu suchen. Kurz nach ihrer Ankunft stirbt Uwe Jahn, einer der beiden mutmaßlichen (im Roman fiktionalisierten) Todesschützen von 1992. Adriana kommt in Untersuchungshaft, eine Berliner Anwaltskanzlei übernimmt die Verteidigung. Matti Junghans – eine junge, sympathisch unausgeglichene Frau, die man aus den ersten zwei Krimis von Kröger kennt – stellt Ermittlungen für die Kanzlei an und rollt den Fall der erschossenen Roma an der Grenze wieder auf.

Die (nur fiktiv zu beantwortende) Frage, was in jener Nacht im Sommer 1992 wirklich passiert ist, treibt die Handlung voran. Beunruhigender ist die Frage, warum sich in Kollwitz und Umgebung niemand an den Vorfall erinnern will. Die möglichen Antworten verlinken den Roman mit der Realität: Weil eine strukturschwache Region keinen Skandal gebrauchen kann. Weil die NPD in weiten Teilen der ostdeutschen Provinz die kommunalen Strukturen unterwandert hat. Oder weil illegale Einwanderer und „rumänische Scheinasylantenzigeuner“ im ganzen Land buchstäblich Freiwild sind. Reden wir über true crime? Das echte Verbrechen, um das es hier geht, besteht nicht darin, dass „jeder Mensch zum Mörder werden kann“. Sondern dass eine Gesellschaft bereit ist, einen mutmaßlichen Doppelmord zu vergessen. Oder hätten Sie sich an Grigore Velcu und Eudache Calderar erinnert?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false