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Feldforschung am Amazonas. Philippe Descola 1976.

© Philippe Descola

Ein Manifest von Philippe Descola: Die Nutzen des entfernten Blicks

In einem Manifest zur Aufgabe der Sozialwissenschaften plädiert Philippe Descola für eine pluralistische Anthropologie.

Von Gregor Dotzauer

Was als wissenschaftlich gilt, wird ständig neu bestimmt. Der grenzenlose Szientismus des 19. Jahrhunderts, der alles Wissen als interpretationsfreie Anhäufung positiver Befunde verstehen wollte, ist einmal untergegangen und in der zeitweiligen Hybris der Hirnforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wiedererstanden. Die Wissenschaftskritik hat sich unterdessen einmal durch ihre Motive vor- und zurückbuchstabiert. Friedrich Nietzsche sah in wissenschaftlichen Wahrheiten nur „unwiderlegbare Irrtümer“ des Menschen. Ludwig Wittgenstein erkannte in ihnen Sprachspiele. Theodor W. Adorno erinnerte den kritischen Rationalisten Karl R. Popper im Positivismusstreit daran, dass gesellschaftliche Erkenntnisse nicht im gesellschaftsfreien Raum stattfinden. Und Poppers abtrünniger Schüler Paul Feyerabend bestand darauf, die Rituale der Hopi-Indianer gegenüber empirischen Methoden nicht abzuwerten.

Philippe Descola, Frankreichs bedeutendster Anthropologe, der als Nachfolger seines Lehrers Claude Lévi-Strauss am Collège de France lehrt, hat zusammen mit drei hochrangigen Kollegen von der Pariser Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) zum 50. Geburtstag der Eliteeinrichtung in der „Libération“ (www.liberation.fr/debats) nun eine Art Manifest zur Aufgabe der Sozialwissenschaften veröffentlicht, das sich an einer aktuellen Definition versucht – und den historischen Ort von Erkenntnis ausdrücklich betont. „Die Herstellung eines ,entfernten Blicks’“ (La fabrication d’un „regard éloigné“) geht vom Ansatz her zwar kaum über das hinaus, was er in seinem Hauptwerk „Jenseits von Natur und Kultur“ und zuletzt in dem Essay „Die Ökologie der Anderen“ entwickelt hat. Aber Descola macht noch einmal unmissverständlich klar, wie antiquiert das Entweder-Oder von universalistischen Prinzipien und relativistischer Bodenlosigkeit ist. Das Ungewöhnlichste aber ist, dass er einen institutionellen Standard definiert, in dem Pluralismus und Einheit wissenschaftlicher Methodik freundschaftlich zusammenfinden.

„Die pluralistische Anthropologie“, schreibt er, „vertritt weder die Ansicht, dass andere Völker sich an ihre Lebensweisen klammern wie an Ideologien, deren Prinzipien es zu enthüllen gälte, noch wie an alternative Kosmologien, die man umarmen sollte, weil sie von der Wirklichkeit getreulicher Rechenschaft ablegen als die unsrige.“ Sie bestehe also weder darin, „sich gegen einen Okzident zu stellen, der für den Rest der unbestimmten Welt unauffindbar ist, sondern die verschiedenen Arten, die Diversität der Welt zu sortieren, gleichberechtigt zu behandeln, indem man eine Sprache der Beschreibung und der Analyse entwickelt, die es erlaubt, von diesen äußerst diversen, aber nicht unendlichen Formen Zeugnis abzulegen, Qualitäten, Prozesse und Beziehungen zusammenzufügen, ohne dabei auf Werkzeuge zurückzugreifen, mit deren Hilfe wir diese Vorgänge im Rahmen unserer eigenen kulturellen Tradition in Begriffe gefasst haben.“ Vermeintliche Universalien wie Gesellschaft, Natur, Geschichte, Ökonomie, Religion oder Subjekt müssten als Begriffe von lokaler Reichweite behandelt und aus der Distanz betrachtet werden.

Die Expertokratie, die im Schatten der täglichen Medienhysterie gedeiht, ist ihm daher so suspekt wie der Auftrag zu einer Forschung, aus der die Politik einfache Handlungsanweisungen erwartet. Bemerkenswert ist seine doppelte Ablehnung der lange dominanten Großerzählungen von Marxismus, Strukturalismus und Dekonstruktivismus, die im akademischen Gewerbe aufeinander folgten, wie der Zersplitterung der Sozialwissenschaften in die Partialperspektiven aller möglichen Studies – obwohl er das ursprüngliche Projekt der Gender Studies begrüßt.

In Frankreich, wo Schriftstellerethnologen wie Victor Segalen und Michel Leiris seit jeher den entfernten Blick üben, der Sinologe François Jullien einen Lehrstuhl für Andersheit innehat und Bruno Latour mit den „Existenzweisen“ (www.modesofexistence.org) an einem ähnlich komparatistischen Projekt arbeitet, taugt das alles nicht mehr zur Provokation. Hierzulande, zumal in der Stadt des geplanten Humboldt-Forums, könnte es Ratlosen die Augen öffnen.

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