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Kultur: Die Ohren der Ehekrise

Mit Witz, Intellekt und Anschaulichkeit: James Wood erklärt „Die Kunst des Erzählens“

Der Originaltitel von James Woods Buch – „How Fiction Works“ – klingt handwerklicher als die feierlich daherkommende Übersetzung: „Die Kunst des Erzählens“. Wie funktioniert Literatur? Um das gewinnbringend zu erläutern, nimmt der Chefkritiker des „New Yorker“ den Motor des Romans auseinander und prüft die Einzelteile: Dialog, Stil, Beschreibung, Tonhöhe und Erzählperspektive, mehr oder weniger komplex angelegte Figuren, Metaphern als Mittel des Erkenntnisblitzes und sprechende Details wie die Ohren Karenins, die Anna erst nach der Begegnung mit Wronski auffallen: „Mein Gott! Woher hat er auf einmal solche Ohren?“ So läutet Tolstoi Ehekrisen ein.

Wood gelingt es, komplizierte Zusammenhänge in pointierte Formeln zu gießen, etwa wenn es um Technik des unzuverlässigen Icherzählers geht, die Nabokov zur Perfektion getrieben hat: „Wir wissen, dass der Erzähler unzuverlässig ist, weil der Autor uns durch vertrauenswürdige Hinweise vor der Unzuverlässigkeit unseres Erzählers warnt.“ Mit historischem Tiefenblick verfolgt Wood, wie sich die Bewusstseinsdarstellung seit Shakespeare entwickelte und die Autoren Formen wie die „erlebte Rede“ – das erzählerische Anschmiegen an die Perspektive der Figur – immer mehr verfeinerten. So wurde der Roman zum Medium des menschlichen Innenlebens und des unbewussten (oder verschwiegenen) Motivs, denn anders als im Theater musste eine Figur ihre Beweggründe im Roman nicht mehr lauthals artikulieren. Wood preist den Roman als Schule der Anteilnahme. Er wurde zum Instrument der Menschenkenntnis, nachdem die Moralphilosophie das „Ungeordnete des menschlichen Subjekt“ größtenteils aus ihren Theorien herausgeschrieben hatte.

Der Reiz dieser Schule des Lesens ist die leichthändige Anschaulichkeit. Gelegentlich produziert Wood sogar auf eigene Faust Stilparodien, um abgedroschene Erzählkonventionen vorzuführen. Akademische Hochnäsigkeit liegt ihm fern, auch wenn er sich richtig ärgern kann über die vielen Amazon-Rezensionen, in denen sich Leser über „unsympathische“ Figuren beschweren. Da diagnostiziert der Kritiker eine „Seuche moralischen Nettseins“, die auf die Literatur übertragen werde. Auch von der alten Unterscheidung von „flachen“ und „tiefen“ Charakteren hält er nicht viel. Eine Figur sei vital, wenn der Leser spüre, dass ihre Handlungen wichtig sind.

Wood positioniert sich als Verfechter eines komplexen Realismus. Dafür reitet er in die Schlacht gegen Strukturalisten und Poststrukturalisten. Der Einwand, dass ein Roman nicht wirklich eine vorgestellte Welt erschaffen könne, weil er doch nur ein zusammengebundener Papierstapel sei, ein System von Zeichen und stilistischen Konventionen, erscheint nach Woods Abfertigung geradezu albern. Seine Idee des Realismus zielt dabei nicht auf „referentielle Korrektheit“, sondern auf innere Folgerichtigkeit und Plausibilität: „Literatur bittet uns nicht, Dinge (in einem philosophischen Sinn) zu glauben, sondern sie uns (in einem künstlerischen Sinn) vorzustellen.“ So gesehen, ist auch Kafkas „Verwandlung“ großer Realismus.

Wer von der Kritik festgerammte Kriterien erwartet, wird von Wood zu Recht enttäuscht. Es gibt für ihn keine Messlatte, die auf jedes Werk passt. „Ein Roman droht zu scheitern, wenn er es nicht schafft, dass wir uns auf seine Regeln einstellen, wenn er es nicht versteht, einen spezifischen Hunger auf seine Wirklichkeit und seine Figuren zu wecken.“ Das kann man nicht besser sagen.

Wood führt vor, wie auch große Autoren handwerkliche Fehler machen, John Updike etwa, der es sich oft nicht verkneifen kann, die perspektivischen Grenzen einer Figur zu überschreiten, um seine elaborierten Beobachtungen und Reflexionen zu platzieren. So entsteht ein Missverhältnis zwischen Figuren- und Autorenstil. Auch dem vielgepriesenen David Foster Wallace kommt Wood kritisch. Er findet die parodistische Mimesis, mit der Foster Wallace aus dem Sprachschutt der durchmedialisierten amerikanischen Gegenwart Prosawerke türmt, auf Dauer sehr ermüdend. Und der (auch von Wood) hoch geschätzte Nabokov muss sich vorhalten lassen, dass er zu sehr auf optische Eindrücke fixiert sei - es gebe noch literarische Qualitäten jenseits der Verpflichtung zur genauen Beobachtung. Hamsun, Anton Tschechow und Saul Bellow dagegen gefallen Wood auch deshalb so gut, weil sie ihre Artistik dezenter präsentieren. Als Gründungsfigur des modernen Erzählens firmiert, wenig überraschend, Gustave Flaubert, dem gleich zwei Kapitel gewidmet werden.

Beim Vergleich der übersetzten Zitate aus französischen und englischen Romanen mit den Originalen fällt auf, dass die Finessen oft verloren gegangen sind, etwa wenn Wood sich über eine Äußerung von Sir William Lucas amüsiert, einer Nebenfigur in Jane Austens „Stolz und Vorurteil“. Der von seiner eigenen Bedeutung überzeugte Provinzbürgermeister hat sich ein Haus bauen lassen, das er auf einen feierlichen Namen tauft: „denominated from that period as Lucas Lodge“. Wood begeistert sich über diese ironisch pompöse Formulierung Austens, die in der Übersetzung ermattet: „seitdem Lucas Lodge genannt“. Die Subtilitäten des Erzählens wirken vor allem in den Originaltexten.

Leider lässt auch die deutsche Fassung von Woods Essay die Geschliffenheit des Originals öfter vermissen: „Wenn die Macbeth’sche eine Geschichte der kundgetanen Privatheit ist, dann haben wir bei Raskolnikow eine der genau unter die Lupe genommenen Privatheit.“ Warum ist kein Lektor über diesen verqueren Satz gestolpert? Zu vielfältiger Lektüre anregend bleibt „Die Kunst des Erzählens“ allemal. Daniel Kehlmann, der das Vorwort beigesteuert hat, war von dem Buch laut eigener Auskunft so hingerissen, dass er es während einer halben Nacht in einem Zug durchlas.

James Wood: Die Kunst des Erzählens. Aus dem Englischen von Imma Klemm.

Vorwort von Daniel Kehlmann. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 224 S., 19,95 €.

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