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Kultur: Die Pille wird 40: Sexual Healing

Als sie ihr fünftes Kind geboren hatte, war Elfriede M., die katholische Tante einer Freundin, der Geburten müde.

Als sie ihr fünftes Kind geboren hatte, war Elfriede M., die katholische Tante einer Freundin, der Geburten müde. Ohne zu wissen, dass die Ohren der achtjährigen Nichte dabei waren, vertraute die Tante ihrer Nachbarin an, dass sie sie jetzt nimmt: die Pille. Anfangs war es ein Geheimnis. Über "die Pille" redeten Bürgerinnen wie Tante Elfriede wie über "die Zone".

Sexualität löste sich von der Fortpflanzung, von der Furcht, mit dem falschen Mann ein unerwünschtes Kind zu bekommen oder mit dem Ehemann das sechste. Klassenübergreifend verbreitete sich die Pille bei Studentinnen, Verkäuferinnen und Arbeiterinnen. Alle nahmen sie, und das wurde als Revolution bezeichnet. 1961 erfunden, wurde die Pille bald zur Ingredienz der 68er-Revolte. Doch schon in den siebziger Jahren, als eine nächste Generation sich selbst als ökologische erfand, bekam sie den Nebengeschmack von "Chemie".

Das war der Beginn vom einstweiligen Ende der Pille, denn in den achtziger Jahren kam Aids. Mit Aids ist die Pille obsolet geworden, Kondome haben sie ersetzt oder komplementiert. Und Sexualität wurde auf eine andere Weise existenziell als in ihrer Verbindung mit dem Risiko, ein Kind in die Welt zu setzen. "Love kills", sang Freddie Mercury, der an Aids starb. Nachträglich lässt sich der Song nicht mehr wirklich metaphorisch hören. "This world could be heaven for everyone", sang Mercury aber auch, auf seine abdriftende, utopisch-kindliche Weise. Um nichts anderes geht es ja immer noch, als darum, wie die Welt vielleicht nicht ein Paradies, aber doch erträglicher für alle werden kann. Wenn es heute um eine pharmazeutische und soziale Revolution geht, um verantwortliche Medizinpolitik, dann auch um das Thema, das jetzt, beim Jubiläum der Pille, am Rande erwähnt wird: HIV und Aids. Gegen die Apartheid haben wir damals demonstriert und Obstkonzerne boykottiert. In der postpolitischen Zeit geht der Norden nicht für das nächst liegende Ziel auf die Straße: den freien Zugang aller zu Behandlung und Medikamenten.

Aids ist in den Regionen der Erde, die wir abwechselnd "Dritte Welt", Entwicklungsländer oder elegant emerging markets nennen, eine der existenziellsten Fragen. Die Frage nach Aids stellt sich weit jenseits der kalifornisch oder französisch inspirierten Theoriedebatten um Gender und Sex unserer Postmoderne. Und weit, weit entfernt von pervers anmutenden Fragen, wie der, ob man sich einen Zweitwagen leisten will oder ein zweites Kind.

In den Industrieländern mit ihrer Luxusmedizin - so nennt sie der Berliner Arzt und Aidsexperte Heiko Jessen - ist Aids inzwischen weder Tabu noch Schrecken. Gute Politik, wie etwa in Deutschland die Kampagne der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth in den achtziger Jahren, hat dafür gesorgt, dass Aids ein öffentliches Wort wurde, ein von Schuld und Angst losgelöstes medizinisches Problem.

Es lässt sich aber über die sexuelle Freiheit und den globalen, sozialen Raum jetzt nicht mehr nachdenken, ohne an die Verdrängung von Aids bei den "anderen" zu erinnern. In den Ländern der südlichen Hemisphäre haben 95 Prozent der Infizierten keine Chance auf Behandlung. Südlich der Sahara lebt die Mehrzahl der 40 Millionen Infizierten, über vier Millionen in Südafrika. Afrika, sagte Nadime Gordimer in der "New York Times" und in einer Rede vor den Vereinten Nationen, habe heute die Perspektive, "am Ende nur noch einen Friedhof zu verteidigen". Mit bewusstem Zynismus sagte sie, die Industrieländer könnten wenigstens Interesse daran haben, dass ihnen nicht die Konsumenten der Exportmärkte dieser Welt zu Millionen wegsterben.

Es stimmt nicht nur etwas nicht, wenn in anderen Kontintenten die geschlechtlichen Beziehungen zu einem Albtraum und zur Quelle von Krankheit und Elend mutieren, während wir uns damit befassen, wie wir unseren Nachwuchs mit Labortechniken genetisch manipulieren, um ihn hübscher und gesünder herstellen zu können.

Es stimmt alles nicht. Die Dimensionen sind verzerrt. Afrika, das ahnen wir, ist zwar unter anderem der Kontintent, dem die Radiosender der Welt die Musik der Moderne verdanken - Blues, Jazz, Pop, Rap, HipHop sind undenkbar ohne ihre afro-amerikanischen Ursprünge. Aber Afrika ist immer noch ein "schwarzer" europäischer Mythos und liegt außerhalb des Horizonts nicht nur jener Tante Elfriede, sondern auch der Studentinnen und Verkäuferinnen, die einst ihr Sexualleben mittels der Pille aus der Gefahrenzone zogen.

Marvin Gaye beschwor "Sexual Healing" in seinem wahrscheinlich schönsten, gleichnamigen Song. Sexual healing, politisch gewendet, bedeutet hier: beide Hemisphären sehen lernen. Das Scheinwerferlicht, in das wir unsere mäandernden Gender- und Biodebatten tauchen, wirkt dann wie der provinzielle Schimmer einer Taschenlampe.

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