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Kultur: Die Rätselmänner

„Savoir-vivre“: Hédi Kaddours kluger Roman über das unergründliche Führerprinzip

Auf die gute Geschichte komme es ihm an, ein Trüffelsucher sei er, einer, der aus dem Erlebbaren das Erzählbare destilliert, der aus Anekdoten Geschichten macht und aus Schlachten die dazugehörenden Gemälde: Max Goffard, Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, Journalist, Weltbürger, Freund und Verehrer der amerikanischen Sängerin Lena Hotspur. Hédi Kaddour hatte ihn in seinem an Thomas Manns „Zauberberg“ anknüpfenden Jahrhundertepos „Waltenberg“ als eine von vier Hauptfiguren vorgestellt. Nun taucht dieser Max Goffard erneut im Werk des 1945 in Tunesien geborenen Schriftstellers auf, der in Frankreich lebt und für „Waltenberg“ schon mit dem Prix Goncourt du premier roman ausgezeichnet wurde.

Der historische Ausschnitt, den Hédi Kaddour in seinem neuen Roman „Savoir-vivre“ präsentiert, beleuchtet die frühen dreißiger Jahre. Max Goffard ist nach London gereist, um eine Reportage zu schreiben. „Er glaubt an nichts, Max, außer an starke Geschichten.“ Und die wird er bekommen. Nicht gleich, auch der Leser muss auf die letzten vierzig Seiten von „Savoir-vivre“ warten, bis ihm schließlich aufgeht, wovon zuvor so andeutungsreich die Rede war. Und dann muss der Lauf der Geschichte im Grunde wie durch das Brennglas dieser unerhörten Begebenheit neu betrachtet werden. Kaddour nämlich versteht es, aus einem sogenannten fait divers, aus einer Pressekuriosität ein Ereignis von historischer Tragweite zu machen und erreicht damit als Schriftsteller, der zuvor vor allem dem Epos anhing, novellistische Höhen.

Im Zentrum des Romans steht ein englischer Kriegsheld mit Backenbart, den Max und seine Freundin Lena in London bei einem Defilée der Veteranen beobachten. „Ein Muster an militärischem und protokollarischem Schliff“, denkt Max. „Ein schöner Mann“, sagt Lena. Tage darauf trifft Max den schmucken Oberst wieder. William Strether arbeitet als Maître d’Hôtel im Restaurant des Regent’s. Die beiden Männer kommen ins Gespräch. Max Goffard wittert seine Geschichte, ohne genau sagen zu können, worin sie bestehen wird, denn das, was Strether zu bieten hat, ist eine „Mischung aus Information und Rätsel“.

Auf der anderen Seite – und einmal mehr erweist sich der Romancier Hédi Kaddour hier als Meister der Montage, der Abschweifung und des erhabenen Fragments – auf der anderen Seite lesen wir von Gladys, der Witwe eines Soldaten, gefallen im Kampf und von seiner jungen Ehefrau schmerzlich vermisst. Wir lesen vom weiteren Lebensweg dieser nicht gerade lustigen Witwe, von ihrem eigenen Kriegsdienst als Krankenwagenfahrerin und Fabrikarbeiterin in einem Werk zur Herstellung von TNT. Kein schönes, aber ein tätiges, ein selbstbestimmtes Leben. „1918“, heißt es lapidar an anderer Stelle, „mussten die Frauen den Männern alles zurückgeben.“ Wir lesen von einer zweiten, unglücklichen Heirat, von großer Armut, von einer Episode als Faktotum einer Londoner Theatertruppe und einem Neuanfang in Birmingham. Dann bricht Hédi Kaddour die Gladys-Erzählung ab und führt seine Leser zurück zu William Strether, dessen Biografie ebenfalls mit einer Birmingham-Episode aufwartet. Der umtriebige Oberst versuchte sich dort einst als Pub-Besitzer und scheiterte.

Zurück in London entfaltet er eine Anziehungskraft auf die Mitglieder der britischen Fascist League, denn „es gibt Schlupfwinkel in der Linie der Zeit, Max, und verborgen in diesen Schlupfwinkeln überdauert eine Ritterschaft, unsterblich, in ständiger Bereitschaft, wieder aufzutauchen, sich neu zu verkörpern, wenn die Geschichte entgleist“. Was William Strether mit anderen Worten so attraktiv für seine neuen Freunde macht: „Man spürte hinter ihm die Anwesenheit einer Kohorte großer Toter.“

Aber es ist noch etwas anderes, eine eigentümliche Sensibilität für Geschlechterfragen gepaart mit einer untrüglichen Lebensklugheit, die Strether umweht. So rät er den jungen Parteimitgliedern, sich von Frauen und insbesondere den Mystikerinnen fernzuhalten. „Was ist eine Mystikerin, Sir?“, wird er gefragt. „Das ist eine Frau, die Ihnen allzu große Augen macht, man sieht es gleich, Sie glauben, es sei aus Bewunderung für Sie, aber die aufgerissenen Augen macht sie nur, weil sie in Ihnen die Lösung für ihr Leben sieht, und es ist sehr schlecht, die Lösung für das Leben einer Frau zu sein.“

Spätestens hier müssen dem aufmerksamen Leser die Motive der Travestie, mit denen der Roman seit der Schilderung von Gladys Aufenthalt bei der Londoner Theatertruppe kokettiert, ins Auge springen. Wer ist eigentlich William Strether? Was sind die Möglichkeiten und Lebenswege einer Frau – und welche die eines Mannes im protofaschistischen Europa der dreißiger Jahre?

Hédi Kaddours kurzer Roman liest sich zunächst wie ein Nebenwerk von „Waltenberg“, der 2005 in Frankreich veröffentlicht wurde. Bei genauer Betrachtung entpuppt sich „Savoir-vivre“ jedoch als dessen subtile Bewegungsstudie. Mit seinen Reflexionen zur politischen Mimikry, mithin dem nachklingenden Helden- und Rittermythos im frühen Faschismus stellt sich Hédi Kaddour in eine ästhetische Tradition, die den Nationalsozialismus als wilde Travestie begreift – von Ernst Lubitschs Filmkomödie „Sein oder Nichtsein“ bis hin zu Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“.

Über William Strether heißt es: „Wenn er da war, rissen sich die Leute zusammen, wie sie es vor einer Lady getan hätten, und sie bildeten sich ein, sie täten es, weil er ein Held war.“ Das ist nicht nur eine „starke Geschichte“, sondern auch ein starkes Stück über das unergründliche Führerprinzip. War „Waltenberg“ das Buch über intellektuelle Rollenspiele, liefert „Savoir-vivre“ nun die historischen Kostüme nach. In diesem Sinne sind beide Bücher dieses großen europäischen Geschichtsschreibers als Einheit zu betrachten.

Hédi Kaddour: Savoir-vivre. Roman. Aus dem Französischen von

Grete Osterwald.

Eichborn, Berlin 2011. 217 Seiten, 18,95 €

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