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Kultur: Die Regel ist, dass es keine Regeln gibt

Reden, reden, reden: Marc-Uwe Kling ist gerade zum besten deutsche Slam-Poeten gewählt worden

Einer steht vorne am Mikrofon und erzählt dem Publikum, was ihn so richtig stört: Tomaten, die Allgegenwart von Tomaten. Tomaten im Salat, Tomaten im Döner, überall Tomaten. Er schreit, fleht, windet sich. Vor ihm hängt ein junges, urbanes Publikum auf Klappsesseln ab, trinkt Cocktails und amüsiert sich. Eine Berliner Lesebühne.

Hinten auf der Bühne auf einem Sofa sitzt Marc-Uwe Kling und kritzelt Notizen auf kleine Zettel. Dann reibt er sich die Augen und sieht für einen Augenblick abgespannt aus. Auf einmal packt ihn wieder die Kritzelei, er versinkt in seine Zettelchen, während vor ihm auf der Bühne die Hölle los ist: Mordfantasien, irgendwas mit Tomatensaft und Tomateneis. Dann ist der Redner am Ende. Marc-Uwe Kling tritt ans Mikrofon und sagt, dass er etwas vortragen möchte, was er sich gerade ausgedacht hat.

Im November ist Marc-Uwe Kling deutscher Poetry-Slam-Champion geworden. Er gewann den Slam 2006 in den Münchner Kammerspielen, eine Art inoffizieller deutscher Meisterschaft, an der 230 Lesebühnen-Autoren, Slam-Poeten und Kabarettisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz teilnahmen. Weit nach Mitternacht fiel die Entscheidung vor 800 völlig aufgelösten Zuschauern. „Die Leute haben geschrien“, sagt Kling. Eigentlich ist er vor einem Auftritt nie aufgeregt. Diesmal raste sein Herz. Doch die Begeisterung des Publikums riss ihn mit. In der Mitte des Stückes warf er seinen Text weg und machte frei weiter. „Man schwebt. Man mutiert, man wird zum Medium des Textes.“

Jetzt steht er also vor dem Mikrofon, schnallt seine Gitarre um, guckt noch einmal kurz auf seine Zettelchen und fängt an zu singen, „Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald“. Statt an das Pfefferkuchenhaus zu kommen, fällt Hänsel hin, bricht sich den Fuß, und Kling bellt dreimal „Der Staat ist schuld!“ ins Mikrofon. Ende des Liedes, nach 20 Sekunden. Dann grinst er ins Publikum und zuckt mit den Schultern: „War nur so eine Idee.“

Auf Lesebühnen und Poetry-Slams verschmelzen zwei Dinge, die wenig gemein haben: Literatur und Entertainment. Alles ist erlaubt, und der Anspruch, bei jeder Vorstellung den Leuten neues Material zu präsentieren, zwingt die Protagonisten dieses Undergrounds, ständig neue Formen auszuprobieren. Regeln gibt es nicht. „Ich kenne die Regeln des Kabaretts gar nicht. Ich ziele nicht darauf ab, etwas Besonderes zu machen, ich mache einfach, was ich will.“ Vor kurzem hat er im St.- Pauli-Theater in Hamburg sein eingängigstes Lied gespielt, einen bösen Ohrwurm zum Mitpfeifen: „Hörst du mich, Josef Ackermann? / Ich schwöre dir, Baby, wir kriegen dich noch dran / Einer muss als Erstes sterben, du bietest dich da an.“ Vor ihm saßen Chefs, Angestellte und Kunden der Hypovereinsbank.

Normalerweise kommen die nicht zu Klings Auftritten. Meist steht er vor städtischer Bohème und jungem Prekariat. Er liest einen Text über die regelmäßig auftretenden „schweren Ausnahmefehler“ von Windows-Computern und über Handys, die man nicht aufbekommt, wenn man den Akku herausnehmen will. Er plaudert in lakonischem Tonfall von diesen Strapazen, hin und wieder wird geschrien, es gibt viele Pointen, viel Sprachwitz, leichte Unterhaltung. Die Widrigkeiten des Alltags, die einen aufregen, wie den Vorredner die Tomaten, sind ein beinahe stereotypes Thema der Lesebühnen. Das Besondere an Kling: Er steht da auf der Bühne in seiner Bluejeans und seinem braunen Pulli und braucht seine Präsenz nicht mit vielen Gesten zu strecken. Man sieht kein exaltiertes Bühnen-Ich, sondern einen intelligenten und witzigen Typen, der sein Naturell nur ein bisschen übersteigern muss, um die Leute zum Toben zu bringen. Wenn es gut läuft, wirft er den Text weg.

Vor vier Jahren war er das erste Mal auf einem Lesebühnen-Abend. Freunde hatten ihn mitgenommen. Kling erwartete eine Lesung: Podest, Sitzreihen, Cord-Jackets, gedämpfte Gespräche, die absterben, wenn alle sitzen und der Dichter in den Raum schreitet. Stattdessen: Leute stehen rum und quatschen und einer mit Sonnenbrille tritt ans Mikrofon und schreit hinein. Während des Vortrags klingelt ein Handy, stört aber nicht in dem latenten Chaos. Ein halbes Jahr später steht Kling selbst auf der Bühne. Die ersten beiden Poetry-Slam-Wettbewerbe, an denen er teilnimmt, gewinnt er. „So fängt man Feuer.“ Kurze Zeit später gründet er seine erste Lesebühne, dann eine zweite. Vor einem Jahr gibt er seine erste Soloshow als politischer Kabarettist. Seitdem tritt er in ganz Deutschland auf. Tagsüber bucht er Auftritte, nimmt Lieder auf, schreibt Texte. Er verdient damit jetzt schon genug, um in Berlin über die Runden zu kommen. Aber sein Philosophie-Studium möchte er schon noch abschließen. Wenn er einmal keinen Auftritt hat, ist er froh.

Der Abend ist schon fortgeschritten. Eben waren die anderen dran, jetzt singt Marc-Uwe Kling sein letztes Lied: „Prinzessin Standort und König Sachzwang / flüstern Schwachsinn in meinen Gehörgang / Doch das Sturmgeschütz der Demokratie / beugt vor den Monarchen betend die Knie / Und wer einst ein investigativer Ermittler / schreibt heute nur Gruselgeschichtchen über Hitler.“

Kling schafft es, politische Herzensangelegenheiten ohne heimliche Verbissenheit auf den Punkt zu bringen. „Ich möchte kein politisches Kabarett machen, das Politikern Dummheit oder Unfähigkeit unterstellt. Deutschland wurde seit 1945 nahezu perfekt gemanagt. Die generelle Richtung eines Systems, das Menschen frisst und Gold scheißt, stimmt aber nicht“, sagt er. Um den Kapitalismus zu kritisieren, ohne bei platten Abstraktionen stehen zu bleiben, singt er darüber, wie sich politische Ideologie im Privaten abbildet oder wie wirtschaftliches Kosten/Nutzen-Denken in Bereiche vordringt, in denen es nichts zu suchen hat: „Eines Abends fragte ich: Liebste, kommst du nicht zu Bette? / Doch sie schüttelte den Kopf und sagte, sie hätte / noch ein besseres Angebot grad reingekriegt / denn jetzt wird sie vom Chef gefickt.“

Irgendwann ist der Abend dann zu Ende. Am nächsten Morgen scheint die Sonne. Wir treffen Marc-Uwe Kling in einem Café. Man stellt Fragen und er hört zu. Dann redet er, zuerst als Antwort auf die Frage, dann mit Eigendynamik. Er redet über die Bibel, über die Presse, über die „polnische Freak-Regierung“, er redet, redet, redet. Seine Augen leuchten, seine Worte werden gezackt und glänzend, sein Ausdruck geschliffen, Kling kommt aus seinem Sessel hervor. Er könnte jetzt aufstehen, ans Mikrofon treten, die Beleuchtung wird schwächer, vor ihm erscheinen Klappstühle und junges, urbanes Publikum mit Cocktails und Bier in den Händen, er redet bruchlos weiter und die Leute sind begeistert.

Marc-Uwe Klings „Lesedüne“, 14. 12. im „Kiki Blofeld“ (Köpenickerstr. 48/49), 20.30 Uhr. Am 19. 12. tritt er in der „Comedy-Sprechstunde“ im Theater Fennpfuhl (Weißenseer Weg 32 - 34) auf. Leseproben auf: www.marcuwekling.de.

Julius Heß

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