zum Hauptinhalt

Kultur: Die Revolution entlässt ihre Rentner Moskaus erste Biennale für Zeitgenössische Kunst

Draußen: frierende Demonstranten. Drinnen: brenzlige Gedanken.

Draußen: frierende Demonstranten. Drinnen: brenzlige Gedanken. Ist das die „Dialektik der Hoffnung“, von der die Moskauer Biennale bereits im Titel kündet? Seit die Regierung den Rentnern die Sozialvergünstigungen gekürzt hat, demonstrieren vor dem ehemaligen LeninMuseum nahezu täglich kommunistische Splittergruppen. Zwölf Jahre diente der neurussische Vierstöcker dem benachbarten Historischen Museum als Archiv, erst kürzlich wurde er als Ausstellungsort wiederentdeckt. Als Russlands Kulturbeauftragter Michail Schwidkoj in den ehemals heiligen Hallen nun die erste Moskauer Biennale für Zeitgenössische Kunst eröffnete, lud er das Premierenpublikum überschwänglich zur Wiederaneignung des öffentlichen Raumes ein: „Vollenden wir die Revolution!“

Folgerichtig überstrahlt das rote Biennale-Banner über dem Museumseingang mühelos die Spruchbänder der Demonstranten. Sollten die sich in den Museumsbau verirren, dürfte ihnen dort vertraute Symbolik begegnen – wenn auch in entweihter Form. Im zentralen Ausstellungssaal etwa läuft Michail Romms Dokumentarfilm „Lenin lebt“, der hier bereits in den sechziger Jahren das Publikum erfreute – im Kontext der Berlinale allerdings wurde das Führerporträt zum ironischen Rührstück degradiert. Zwei Etagen tiefer wälzt sich ein auf den Boden eines Pappkartons projizierter Lenin unruhig im Grabe. Und quer durchs ganze Gebäude hat David Ter-Oganjan kleine Sprengsätze verteilt, zusammengebastelt aus Bierdosen, Kabeln und Haushaltsweckern: „Dies ist keine Bombe“, behauptet der Werktitel in bester Magritte-Manier. Weniger karnevalistisch wird die politische Linie in den Nebenprojekten fortgesetzt: Marat Guelman präsentiert seine Ausstellung „Rossija 2“ als expliziten Gegenentwurf zu Putins Russland.

Beeindruckend die internationale Beteiligung: Der Franzose Christian Boltanski verwandelt das Schtschussew-Architekturmuseum in einen Erinnerungsgarten seiner odessitischen Vorfahren, der Amerikaner Bill Viola projiziert seine neue Video-Arbeit „The Greeting“. Hauptsächlich aber sind es die ganz Jungen, die das Kuratorenteam unter Leitung von Iosif Bakstejn aus aller Welt zusammengekarrt hat. Für das nötige Lokalkolorit sorgen derweil Ausstellungen in Moskauer Künstlerwohnungen, bei denen nicht selten die hohe Kunst des Wodka-Konsums im Vordergrund steht.

Noch nie war das Kuratorenboard einer russischen Schau so international und prominent besetzt. Daniel Birnbaum, Hans Ulrich Obrist, Nicolas Bourriard, Iara Boubnova und Rosa Martinez trafen die Künstlerauswahl in streng kollektiver Gemeinschaftsentscheidung und wurden gleich für zwei Biennalen in Folge verpflichtet.

1,2 Millionen Euro Budget mögen im Vergleich mit den großen internationalen Festivals etwas mager anmuten – für Russland ist es der größte Betrag, den je eine Regierung für zeitgenössische Kunst locker gemacht hat. Und den Rentnern, mag da mancher einwenden, wird derweil das Letzte genommen: erst die Sozialvergünstigungen, jetzt auch noch der heilige Schrein des großen Wladimir Iljitsch. Rund um das Lenin-Museum wollen sich kommunistische Thesen und künstlerische Antithesen noch nicht recht zur gesellschaftsübergreifenden Synthese fügen. Als „Dialektik der Hoffnung“ jedoch taugt das Ensemble allemal.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false