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Orhan Pamuk wurde 1952 in Istanbul geboren. ,

© AFP

"Die rothaarige Frau" von Orhan Pamuk: Land der vielen Väter

In seinem neuen Roman „Die rothaarige Frau“ verschränkt Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk virtuos Mythos und Gegenwart der Türkei.

Alles scheint zunächst ganz einfach zu sein, so als erzähle Orhan Pamuk eine Geschichte von archaischer Schlichtheit. Eine „tiefe Stille“ breitet sich aus, eine durchaus behagliche Atmosphäre, wenn Cem Çelik, der Erzähler, ferne Erinnerungen heraufbeschwört. 16 Jahre war er alt, als er mit einem Brunnenbauer aus Istanbul in das 30 Kilometer entfernte fiktive Örtchen Öngören zog, um ihm als Lehrling zur Hand zu gehen. Das sollte nicht lange dauern, vier Wochen bloß, aber deutlich mehr einbringen als die Arbeit in der Buchhandlung, die eigentlich mehr Cems Sache war.

Doch das Geld lockte, und gegen körperliche Arbeit war auch nichts einzuwenden. Außerdem hatte Meister Mahmut, wie der erfahrene Brunnenbauer hieß, einen weiteren Vorteil: Er war exakt so alt wie Cems Vater, nämlich 43, und der Vater, ein Apotheker, war verschwunden, einfach so. Als Marxist wurde er nach dem Militärputsch im Gefängnis gefoltert, aber dieses Mal steckte vermutlich wieder eine Frau dahinter. Denn er war nicht nur ein freundlicher Mann, sondern auch äußerst attraktiv.

Cem träumte, Schriftsteller zu werden, aber seine Mutter wünschte sich, dass er studiert. Das Geld war für die Schule gedacht, die ihn für die Aufnahmeprüfung auf die Universität vorbereiten sollte. Tatsächlich ist er, das erfahren wir auf der ersten Seite des in drei sehr unterschiedliche Teile gegliederten Romans, Geotechniker und Bauunternehmer geworden. Aber wie kommt es, dass er uns trotzdem seine Geschichte erzählt, 30 Jahre später?

Wie Orhan Pamuk in seinem letzten Roman „Die Fremdheit in mir“ den Zauber des alten Istanbul über die Lebensgeschichte des Boza-Verkäufers Mevlut einfing und eine verschwundene soziale Umgangsform ins Gedächtnis rief, weiht er uns nun in die Technik und Bedeutung des manuellen Brunnenbaus ein. Sogar die Skizze einer schlicht konstruierten Seilwinde, mit deren Hilfe man einen Eimer ins immer tiefer werdende Brunnenloch befördern kann, ist abgebildet.

Gespür und harte Arbeit

Ein Brunnenbauer braucht Gespür für den richtigen Ort, an dem er Wasser zu finden hofft, der Rest ist harte Arbeit für mindestens zwei. Derjenige, der im Brunnen tiefer und tiefer gräbt, muss sich auf denjenigen verlassen können, der oben die Kurbel bedient, sowohl auf sein Geschick, wenn er den Eimer nach dem Entleeren wieder nach unten lässt, als auch auf seine Zuverlässigkeit, wenn er den Grabenden, der sich rufend in den Eimer stellt, wieder nach oben befördern soll. Cem hat seiner Mutter versprochen, selbst nicht in den Brunnen zu steigen. Einmal probiert er es trotzdem. Sonst ist es der Meister, der sich wie ein Maulwurf immer tiefer ins Erdreich gräbt. Sein Auftraggeber will in Öngören eine Textilfabrik errichten.

Es ist ein Meisterstück, wie der Nobelpreisträger des Jahres 2006 nun auch den Leser immer tiefer ins Brunnenloch senkt. Konnte er gerade noch auf eine recht gemütliche Geschichte hoffen, gewürzt mit dem Versprechen einer erotischen Initiation, verwandelt sich „Die rothaarige Frau“ („Kirmizi Saçli Kadin“) unversehens in ein mythologisches Zauberkunststück, das ihm die Orientierung raubt. In der Garnisonsstadt Öngören gastiert zur gleichen Zeit auch ein Theater. Einst als linke Polit-Truppe unterwegs, gibt es sich nun, im Sommer 1986, als „Legenden- und Moraltheater“. In einem Zelt unterhält es die Bevölkerung und die dort stationierten Soldaten mit einem Mix aus alten Märchen und Legenden, Schnipseln aus der Weltliteratur und allerlei Zoten. Die Hauptattraktion aber dürfte die rothaarige Frau sein, die dort mit nackten Beinen und kurzem Rock auftritt und dem Roman seinen Titel gibt. Natürlich verfällt ihr auch Cem.

So wird er in Öngören gleich doppelt ins Leben eingeführt: mit dem väterlichen Prinzip von Ansporn und Gehorsam durch Meister Mahmut und mit dem mütterlichen Prinzip des Behütens und Umsorgens, aber auch des Lockens und Verführens. Meister Mahmut ist ein glänzender Geschichtenerzähler. Cem hört ihm gerne zu. Irgendwann entdeckt er, dass die meisten Geschichten aus dem Koran stammen, obwohl Mahmut gerne vorgibt, er habe sie selbst erlebt. Das Einzige, was Cem stört, ist die Moral. So kommt er auf die Idee, mit einer „verstörenden“ Geschichte zu kontern. Und er serviert Meister Mahmut den Ödipus- Mythos, so wie er ihn in einem „Buch über Träume“ (also bei Sigmund Freud) in der Buchhandlung gelesen hat.

In der persischen Tradition gibt es eine ähnliche Geschichte. Sie wird in Firdausis „Schahname“ überliefert, dem persischen Nationalepos, mit dem zur osmanischen Zeit zumindest türkische Intellektuelle vertraut waren. Dort ist es allerdings der Vater, der den Sohn umbringt. Doch die Verkennung ist in beiden Geschichten die Voraussetzung des Geschehens. Ödipus weiß nicht, dass er seinen Vater Laios tötet, und Rostam weiß nicht, dass Sohrab sein Sohn ist.

Sophokles, Firdausi und Nietzsche sind die Gewährsmänner

Orhan Pamuk wurde 1952 in Istanbul geboren. ,
Orhan Pamuk wurde 1952 in Istanbul geboren. ,

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Die beiden Geschichten, ein Vatermord und ein Sohnesmord sowie den skandalösen Akt des Inzests, verschraubt Orhan Pamuk so virtuos mit der Handlung seines Romans, dass sie alles infizieren, was er erzählt. Neben Sophokles und Firdausi ist Nietzsche der dritte Gewährsmann. Kein anderer von Pamuks Romanen, von „Cevdet und seine Söhne“ über „Rot ist mein Name“ bis zu „Die Fremdheit in mir“ ist so diabolisch konstruiert.

Lange müssen wir den Ich-Erzähler, der zunächst unsere Sympathien hat, für den Mörder seines Meisters halten. Eine Tat, die er vergessen will, um ein normales Leben zu führen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass Pamuk nebenbei erwähnt, vor den Zeiten Atatürks seien es Armenier gewesen, die in Istanbul die Brunnen bauten. Tatsächlich führt Cem ein erfolgreiches Leben. Er findet eine Frau, die nach Aussagen des wieder in sein Leben tretenden Vaters seiner Mutter gleicht. Nach einem kurzen Gastspiel als Beamter gründen sie ein Bauunternehmen, das sie „Sohrab“ nennen. Weil ihre Ehe auch unter Zuhilfenahme internationaler Fertilisationstechniken kinderlos bleibt, sehen sie ihre Firma als ihren Sohn an. Jahrelang haben sie persische und arabische Mythen und Legenden gesammelt. Doch dann machen sie einen entscheidenden Fehler. Sie drehen ein Werbevideo, das nicht nur in Öngören, wo Meister Mahmut wie ein Heiliger verehrt wird, sondern auch bei seiner früheren Geliebten pekuniäre Begehrlichkeiten weckt. Ein zorniger junger Mann mit nationalistischer Gesinnung schreibt Cem, er sei sein Sohn.

Pamuk beschreibt die Bruchstellen der türkischen Gesellschaft

Konstruiert wie ein mythisches Verhängnis, beschreibt Orhan Pamuk die Bruchstellen der türkischen Gesellschaft: den Wunsch nach dem starken Mann, nach Gehorsam und Führung, die Verdrängung historischer Schuld, das Wuchern der Städte, die Ausbeutung der Natur, der Verlust politischer Bandbreite. Als Cem gegenüber Gülcihan klagt, sein Vater habe ihn und die Mutter verlassen, was diese nicht wundert, denn sie war auch dessen Geliebte, rät sie ihm, sich einen neuen Vater zu suchen: „An Vätern mangelt es nicht in diesem Land. Vater Staat. Gottvater. Die Generäle spielen sich als Väter auf, und sogar die Mafia. Ohne Vater kann hier keiner leben.“ Im letzten Teil, dessen Ich-Erzählerin die nun über 60-jährige Gülcihan ist, ergänzt sie ihre Einsicht um die Bemerkung, dass „die Logik der Welt auf dem Weinen der Mütter gründet.“ Da ist es bereits zu spät. Ihr Sohn hat seinen Vater getötet.

Dass Orhan Pamuk auf die Verhängnisstruktur des Mythos zurückgreift, um Fragen von Schuld, Schicksal, Staat, Familie und Moral zu diskutieren, macht seinen Roman literarisch ergiebig. Von der Metapher über das Symbol bis hin zu Parabel und Allegorie kann man hier das ganze Arsenal rhetorischer Figuren bestaunen. Es steht im Dienst einer Geschichte, die sich nicht auf eine klare Aussage bringen lässt. Man denkt an die Mythen-Begeisterung der DDR-Literatur, die als Schutz vor der Zensur funktionierte. Für die Bedingungen, unter denen Pamuk schreibt, ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen.

Schreiben, so erklärte er in seiner ganz dem Andenken des Vaters gewidmeten Nobel-Vorlesung, sei so ähnlich, als wolle man mit einer Nadel einen Brunnen graben. Und er erzählte von dem Koffer, den sein Vater zwei Jahre vor seinem Tod zu ihm gebracht hatte: mit Heften, in denen er sich als Schriftsteller probiert hatte. Um sie zu schreiben war er einfach aus seiner Ehe ausgebüchst – nach Paris. Der Erzähler des von Gerhard Meier in ein ebenso schlichtes wie gut klingendes Deutsch gebrachten Romans ist übrigens nicht Cem, wie man lange annimmt. Es ist Enver, sein im Gefängnis sitzender Sohn, der mit dem von der Mutter als Kassiber übermittelten Stoff in die Haut seines toten Vaters schlüpft.

Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2017. 286 Seiten, 22 €. Orhan Pamuk liest am Montag, 16. Oktober, um 20 Uhr im Großen Sendesaal des Haus des Rundfunks, Masurenallee 8 - 14 in Charlottenburg. Radio Eins überträgt die Lesung live.

Meike Feßmann

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