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Kultur: Die Schuhe vor dem Sturm

Eine Benatzky-Operette im Kudamm-Theater

Der Adel hat archaische Regeln: Heiratet eine Blaublütige einen Bürgerlichen, so erwirbt dieser damit nicht das Recht, ihren Titel zu tragen. Umgekehrt dagegen ist es, zumindest dynastisch gesehen, kein Problem. Kein Wunder, dass es in den klassischen Operetten nur so von hochwohlgeborenen Herren wimmelt, die zum Happy End Fräuleins aus dem einfachen Volk ehelichen. Da werden Mädchenträume wahr. Prinzgemahl dagegen möchte Mann nicht werden. Schon gar nicht Dr. Roger Fleuriot: Zwecks Broterwerb hat er eine Stellung als Bibliothekar bei der Prinzessin Lilly de Saint Labiche angenommen – von den amourösen Avancen der noblen Arbeitgeberin will er aber nichts wissen. Da erfindet sie flugs eine aus der Familie verstoßene Schwester, die als Schuhverkäuferin arbeitet. Gegen ein geringes Entgelt lässt der Boutiquebesitzer Filosel Lilly gerne ihr Schäferspielchen spielen. Und tatsächlich fängt Fleuriot Feuer für das falsche Fräulein, macht ihr einen Antrag – und schleift sie sofort nach der Hochzeit wieder zum Scheidungsrichter, als er entdeckt, dass die beiden gegensätzlichen Frauen eine Person sind.

In „Meine Schwester und ich“ hat Ralph Benatzky die dramaturgischen Funktionsmechanismen der silbernen Operette geschickt ausgehebelt. Er stellt die immer mehr zu Sentiment und Ausstattungspomp tendierende Gattung vom Kopf auf die Füße, erzählt eine witzige Klassenkampfkomödie. Mit Benatzkys „Bezauberndem Fräulein“ konnte das Theater am Kurfürstendamm vor sieben Jahren einen schönen Coup landen. Jetzt hat hier Herbert Hermann das 1930, sechs Monate vor Benatzkys Welterfolg „Im weißen Rössl“, entstandene „Schwester“-Lustspiel inszeniert – natürlich mit sich selber in der Hauptrolle.

Auch wenn der langjährige Hausherr Jürgen Wölffer regiehandwerklich mitgearbeitet hat – die eigentliche Sprengkraft des Stücks ist bei der am Sonntag heftig beklatschten Premiere allenfalls zu erahnen: Um klarzumachen, dass die ganze turbulente Handlung allein durch die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Protagonisten ausgelöst wird, müssten die Charaktere viel detailreicher gezeichnet sein. Ohne den trennscharfen soziologischen Blick bleibt es bei einer harmlosen, aber durchaus vergnüglichen Abendunterhaltung. Herbert Hermann spielt den bibliophilen Liebhaber mit routiniertem Charme, lässt beim Evergreen „Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin“ gar Heesters-Qualitäten aufblitzen. Befeuert vom exzellenten Andrew Hannan am Klavier wird überhaupt mitreißend gesungen: Nora von Collande ist eine rauchig-resche Prinzessin, Birge Funke eine Irma mit Musicalprofessionalität, Gerd Lukas Storzer und Marcus Ganser punkten als Knallchargen. Frederik Hanssen

Bis 12. August täglich außer montags.

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