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Kultur: Die Sonne im Herzen der Mörderin

Liebe und Verbrechen: Graham Swift stellt heute in Berlin „Das helle Licht des Tages“ vor – einen Roman von alttestamentarischer Wucht

Um kurz nach halb neun kehrt Bob Nash heim. Seinen Wagen parkt der Gynäkologe nicht wie sonst in der Garage, sondern auf dem Kiesweg vor dem Haus in Wimbledon, einem der besseren Londoner Vororte. Es ist der 20. November 1995, und gerade hat Nash seine Geliebte zum Flughafen gebracht. Es soll ein Abschied für immer sein, das Ende eines langen Verhältnisses. Zu Hause wartet seine Frau Sarah. Sie trägt ein enges schwarzes Kleid und hat coq au vin zubereitet, sein Lieblingsgericht – und das Essen, bei dem sie sich einst lieben lernten. Die Weichen scheinen auf Versöhnung gestellt. Irgendwann im Laufe seiner Affäre hatte Bob seiner Frau gesagt, dass er ohne die Geliebte nicht leben könne.

Drei Wochen zuvor sucht die Dozentin und Übersetzerin Sarah Nash den Privatdetektiv George Webb auf, einen Spezialisten für Eheangelegenheiten. Webb braucht nicht herauszufinden, ob ihr Mann ein Verhältnis hat; sie weiß es längst, handelt es sich bei der Geliebten doch um ihre Studentin Kristina aus Kroatien, der sie in politisch schwieriger Lage Quartier gewährt hat. Webbs Auftrag ist einfach. Er soll prüfen, ob Bob Nash sein Versprechen hält und Kristina tatsächlich zum Flughafen bringt. In der verbleibenden Zeit sehen sich Sarah und George dann und wann. Zufällig im Supermarkt. Oder bei der Übergabe von Fotos. Der Detektiv und die Klientin. Einmal gehen sie auch auf einen Drink in eine Bar. Es sind eher beiläufige Begegnungen. Zwei Jahre später wird er sie im Gefängnis besuchen, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Er wird auf sie warten. Acht Jahre oder neun. Der Detektiv und die Mörderin: Was hat sie zusammengebracht? Für wen entscheiden wir uns?

Solche Fragen ziehen sich leitmotivisch durch Graham Swifts Roman „Das helle Licht des Tages“ (Light of day). Swift, 1949 in London geboren und mit „Waterland“ (1983) und „Last orders“ (1996) auch hierzulande bekannt geworden, ist Literaturwissenschaftler genug, um zu wissen, dass gute Prosa gute Fragen stellt. Und statt Antworten zu geben, lieber erzählt. Meist sind es die Niederlagen und Tröstungen ganz gewöhnlicher Leute, denen sich der Booker-Preisträger in seinen Romanen widmet. So auch in „Das helle Licht des Tages“. Erzählen lässt er George Webb, den Privatdetektiv. Bücher, sagt der einmal, seien nicht sein Ding. Nicht wenige gute Bücher sind von Leuten erzählt, deren Ding angeblich Bücher nie waren. Dabei passiert in diesem Buch nichts Besonderes. Nichts, was nicht jeden Tag irgendwo auf der Welt passieren würde: Eine Frau tötet den Mann, mit dem sie viele Jahre verheiratet war, ein anderer Mann verliebt sich zur selben Zeit in sie, in eine Mörderin, die zunächst nichts von ihm wissen will. Eine Zeitungsmeldung. Aber was Graham Swift daraus macht, hat – der bisweilen herrschende Predigerton gehört dazu – alttestamentarische Wucht. Und ist dennoch auf der Höhe der Zeit, weil immer auch alles hätte anders kommen können.

Es sind vor allem zwei Tage, an denen alles auch hätte anders kommen können. Sie stehen im Mittelpunkt des Romans: der 20. November 1995 und der 20. November 1997. An dem einen Tag geschieht der Mord, an dem anderen besucht George die Mörderin im Gefängnis. Das Ereignis und sein zweiter Jahrestag. George war früher Polizist. Irgendwann wurde er unehrenhaft entlassen und danach Privatdetektiv: einer der einst immer auf der sicheren, weil richtigen Seite stand. Ein gefallener Engel, der zum professionellen Beobachter wurde.

Schon als Kind war er versiert im Beobachten. Sein erstes Objekt war der eigene Vater, der sich heimlich mit einer Frau traf, die nicht seine Mutter war. Er hat seiner Mutter nie davon erzählt. Detektivarbeit, sagt er später, bestehe zu fünfzig Prozent aus Warten. George kann warten. Vor seinem Besuch im Gefängnis geht er zum Grab des Opfers, des Ehemanns, und legt dort Blumen nieder, stellvertretend für Sarah, wie er meint. Doch seit zwei Jahren, seit dem Nachmittag des 20. November 1995 ist Bobs Geschichte auch Georges Geschichte.

Schließlich hätte alles auch anders kommen können: Der Ehemann hätte nicht vom Flughafen aus noch einmal in die Wohnung der Geliebten fahren müssen, er hätte danach nicht als Gespenst nach Hause kommen müssen, es hätte auch alles anders kommen können. Von all dem wird George Sarah nie erzählen: „Einige Dinge bleiben am besten ungesagt.“ Sagt einer, der gelernt hat, mit Enttäuschungen umzugehen: Nachdem er Frau und Job verloren hat, fängt George das Kochen an: „Wenn es dir nicht gutgeht, iss was Ordentliches. Koche mit Sorgfalt. Gerade weil du allein lebst.“

Wer nun an die Melange von Kulinarischem, Literarischem und Erotischem denkt, wie sie immer mal wieder in Mode kommt, liegt falsch. Nichts, aber auch gar nichts, erinnert bei Swift an jene angedickte Sinnlichkeit, die einen beim Essen und Küssen primär ans Schmatzen denken lässt. Was Swift angerichtet hat, fällt vielmehr sachlich aus. Der Erzähler hat bei zahlreichen Obduktionen gesehen, dass der Magen dem Herzen am nächsten liegt.

So bündig wie der Erzählstil, ist das Ensemble der Figuren. Es sind nicht viele, und man erfährt nicht viel, aber Entscheidendes von ihnen: von Bob und Sarah, von Georges Eltern, von seiner ersten Frau Rachel, von ihrer gemeinsamen Tochter – und von Rita. Auch Rita war eine ehemalige Klientin, eine von ihrem Mann Betrogene, damals, als sie noch in einer Kartonfabrik arbeitete. Jetzt ist sie Georges Assistentin, seine Kollegin und Partnerin. Eine Beziehung mit Möglichkeitssinn, besser als viele Ehen, wie beide meinen: Es muss nicht alles realisiert werden. Bis, ja, bis wann eigentlich? Bis Rita beschwörend immer wieder sagt: „Es wird nachlassen, George.“

Ein Hauch von Chandler und Hammett weht durch den Roman. Doch Swift hat keinen Thriller geschrieben. Er lässt von Anfang an keinen Zweifel aufkommen, wer die Täterin und wer das Opfer ist, jedenfalls nicht für die polizeiliche Ermittlung.

Fahnden muss der Leser nach anderem, nach der Chronologie der Ereignisse, den Zusammenhängen und Ursachen. Das liegt vor allem an der Erzählweise, die sich um Linearität wenig schert. Der Ich-Erzähler fügt Bruchstücke zusammen. Wortkarg beinahe, konzentriert und dennoch detailreich. Allmählich entsteht so eine verschachtelt erzählte Geschichte, ein wunderbar spröder Liebesroman, in dem kaum einmal das Wort Liebe fällt – außer in dem vorangestellten Motto: „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.“ Ansonsten aber ist Liebe kein Wort, sondern der unsichtbare Kitt, der die Bruchstücke verbindet. Das gilt auch und gerade für einen Privatdetektiv, der fest daran glaubt, dass die Wörter nicht die Sachen sind. Bis sein Herz an eine Mörderin gerät, bis er – der Not, nicht dem eigenen Trieb gehorchend – selbst zu schreiben anfängt, weil ihn Sarah darum bittet: „Schreib für mich auf, wie es da draußen ist, George. Bring die Welt hier herein. Nicht wie ein Polizeibericht, verstehst du?“ Das ist es, was er ihr ins Gefängnis mitbringt: frische Luft und ein Stück Welt auf einem Stück Papier. Die besten Geschichten schreibt eben nicht das Leben, sondern die Literatur.

Graham Swift: Das helle Licht des Tages. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. Hanser Verlag, München 2003. 327 Seiten, 19,90 €. – Der Autor liest aus seinem Roman heute um 20 Uhr im British Council Berlin am Hackeschen Markt.

Thomas Wegmann

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