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Kultur: Die Spur des Messers

Liebe und Tod in Schwarz-Weiß: Das Kupferstichkabinett in Berlin zeigt seinen Reichtum an Munch-Graphiken

Eines seiner Bilder hatte Thomas Mann in der nicht unproblematischen Novelle „Gladius Dei“ vor Augen: Dort hängt im Schaufenster des jüdischen Galeristen Blüthenzweig eine verführerische Madonna, eine „heilige Gebährerin“, die den Studenten Hieronymus in den Wahnsinn treibt. Nicht unwahrscheinlich, dass dafür Munchs „Madonna“ als Vorbild diente: eine hingebungsvoll zurückgelehnte Frau, die Augen wollüstig geschlossen, umflossen von Wellen schwarzen Haars. Ein Kranz von Spermien und ein Embryo in der umlaufenden Rahmenleiste machen unmissverständlich klar, welcher Moment hier gezeigt wird. So unmissverständlich, dass der Kunstsammler Gustav Schiefler das Blatt vorsorglich in „Annunziata“ umtaufte und in seinem Tagebuch schrieb: „Er (Munch) findet es begreiflich, dass wir die Madonna nicht haben ausstellen wollen. Er meint, so etwas könne in der Tat für junge Mädchen gefährlich sein.“

Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt zwei Fassungen dieses neben dem „Schrei“ wohl berühmtesten Motivs Edvard Munchs: Eine farbige, vollständige Lithografie, die den sichelförmigen Heiligenschein im Haar der Madonna mit ochsenblutroter Farbe hervorhebt, und eine beschnittene Fassung, die die erneute Bearbeitung des Steins deutlicher erkennen lässt. Um zu erfahren, was Farbe vermag, ist Munchs grafisches Werk bestens geeignet: weil mit der unterschiedlichen farbigen Fassung der von Munch immer wieder überarbeiteten Lithografien sich der ganze Charakter des Bildes ändern kann. Das „Kranke Kind“ zum Beispiel ist, einmal mit blassgrünen Strichen umrissen, ein ungesund zärtelndes Wesen, während die blutrote Farbe des Parallelblatts dem Mädchen Temperament und Leidenskraft verleiht.

Die Druckgrafik, die Edvard Munch 1894 als Autodidakt in Berlin entdeckte, wurde ihm zeitlebens zum wichtigen Ausdrucksmittel: „Ich werde guter Laune, wenn ich nur eine Kupferplatte in die Hand bekomme. Eine Kupferplatte, das ist doch das Reinste von allem! Ich zeichne lieber auf Kupfer als auf Papier. Die Nadel ist auch das allerfeinste Werkzeug“, wird der Künstler im Katalog zitiert und dazu eine Fotografie von 1902 gezeigt, die ihn beim Radieren in einem Garten in Lübeck zeigt: konzentriert, die Hände angespannt, und im Hintergrund steht verschwommen ein nackter Faun.

Eine Ausstellung von Munchs reichem grafischen Werk in Berlin zeigt, wie sehr der norwegische Symbolist mit der Technik experimentiert hat. Da gibt es die mit Tusche und Kreide zu dämonischen Kontrasten bearbeiteten Lithografien wie das „Selbstbildnis mit skelettiertem Arm“ von 1895, da gibt es Farbfassungen, die wie Vorläufer der Pop-Art wirken, etwa das Nietzsche-Porträt von 1906 oder das erst 2002 erworbene „Mädchen mit rotem Haar und grünen Augen“. Die groben Maserung verleiht den Holzschnitten eine besondere Expressivität („Der alte Fischer“ von 1897), während die Radierungen, vor allem die flüchtigen Porträts, eine hinreißende Leichtigkeit verströmen.

Viel zu lang ist die Grafik zu Gunsten der Malerei vernachlässigt worden. Weder die große Ausstellung „Munch in Deutschland“ 1995 im Alten Museum noch die jetzige Retrospektive in der Wiener Albertina (vgl. Tagesspiegel vom 15.3.) rücken sie in den Vordergrund – was in beiden Fällen verwundert, verfügt doch Berlin über den nach Oslo reichsten Bestand an Munch-Grafik. Das österreichische Museum ist dem Genre ohnehin gewidmet.

Mit diesem Versäumnis möchte das Kupferstichkabinett nun aufräumen – und gleichzeitig eine späte Wiedervereinigung feiern. Rund 250 grafische Werke Edvard Munchs nennt die Institution ihr Eigen, Ergebnis eines klugen, frühen Sammelns: Berlin war 1909 die erste öffentliche Institution, die in großem Ausmaß Munch-Werke ankaufte. Etwa zur Hälfte waren diese Werke nach 1945 auf Ost und West verteilt worden, wobei die wichtigeren und interessanteren Blätter im Osten landeten. Seit 1992 träumte das wieder vereinigte Kupferstichkabinett von einer umfassenden Präsentation, die, mal aus Kostengründen, mal aus Raumnot verschoben wurde. Nun liegt sie, gemeinsam mit dem umfassenden Bestandskatalog, endlich vor – gerade rechtzeitig im Vorfeld des 140. Geburtstags des Malers, der an 12. Dezember 2003 begangen wird.

Unter dem von der Nationalgalerie entliehenen „Lebensfries“ sind sie in Berlin nun alle zu sehen: der „Kuss“, der „Vampir“, die „Madonna“, das „Mädchen am Meer“, die „Stimme“ – und viele mehr, die nicht schon längst postkartenberühmt um die Welt gegangen sind. Die harten Schwarz-Weiß-Kontraste, die Spuren des Holzes, des Steins und des Messers machen die Blätter erregender, exstatischer fast als die so viel berühmteren Gemälde. Es sage keiner, dass Grafik nicht sinnlich sein könne. „Da ich jetzt darüber klar bin, dass die Zeiten nicht für eine Gemäldeausstellung passend sind, so muss ich ihm eine Collection Grafik schenken...“, schrieb Munch an Curt Glaser, einen seiner Gewährsleute und eifrigen Ankäufer in Deutschland. Wie gut, dass die Zeit nun reif ist für seine Grafik.

Kupferstichkabinett am Kulturforum, bis 13. Juli, Di bis Fr 10-18, Sa und So 11-18 Uhr. Katalog (G + H Verlag) 25 Euro

Christina Tilmann

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