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Kultur: Die Sterne von Tokio

Heiliger Beethoven: Mit Kent Nagano und dem Deutschen Sinfonie Orchester in Japan

Tokio ist anders. Anders als der Rest der Welt, ganz anders als Japan – und vor allem immer wieder anders als Tokio selbst. Das schreiende Reklamebunt der Nacht; der steingraue Tag; die Obdachlosen vom Yoyogi-Park mit ihren flatternden Zeltstädten; die Abermillionen dunkler Luxuslimousinen, die wie Walfische an ihnen vorüberziehen; das vollständig vorsintflutliche Gewirr der Elektrizitätsleitungen; Tempel und Wolkenkratzer, Gärten und Highways, Sashimi und original bayrische Weißwürste.

Tokio sei ein guter Platz zum Leben, stöhnt der Gesandte der Deutschen Botschaft leise und lauscht für Sekunden dem exotischen Vogelkonzert, welches sich in den türkisblauen Herbsthimmel erhebt, ein guter Platz, wie gesagt – aber unvorstellbar teuer. Sechs- bis siebentausend Dollar für eine halbwegs geräumige, zentrale Wohnung, achthundert bis tausend Euro für einen Opernbesuch.

Dagegen nehmen sich die Eintrittspreise für das Auftaktkonzert der Japan-Tournee des Deutschen Sinfonie Orchesters Berlin unter Kent Nagano regelrecht milde aus: Karten zwischen umgerechnet 40 und 120 Euro sorgten jedenfalls für ein fast volles Haus. Dass die Stimmung im Saal nicht ganz so ausgelassen schien, wie man sich das vielleicht gewünscht hätte, mochte mehrere Gründe haben. Zum einen gehorcht der Japaner als solcher gerne dem Klischee und lässt seinen Emotionen in der Öffentlichkeit kaum je freien Lauf. Zum anderen ist die Tokio Opera City Concert Hall im quirligen Stadtteil Shinyuku nichts anderes als ein buddhistischer Tempel, nein, eine gotische Kathedrale, nein, vielmehr wohl beides zugleich, eine Arche Noah in honigfarbenem Holz und mit einem pyramidenförmigen Dachaufbau – kein Platz unbedingt für entfesseltes Trampeln, Klatschen oder Johlen.

Als Kent Nagano in enger Zusammenarbeit mit seinem verstorbenen Komponistenfreund Toru Takemitsu das Haus Mitte der Neunzigerjahre mit konzipierte, schnitten sie in die Stirnseite hoch über der Orgel ein mächtiges, dreieckiges Fenster: Sternengucker sollte der Tokioter Musikliebhaber sein, Gottsucher von der ersten bis zur letzten Note. Ein großes Versprechen. Außerdem erscheinen Programme wie dieses erste mit Beethovens Violinkonzert und Richards Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ nur oberflächlich betrachtet klassisch-kulinarisch-konventionell. Eine derart entschiedene Konzentration auf das „Deutsche“, es verlangt nicht nur von den wahrlich germanophilen Japanern ein hohes Maß an Versenkungswillen und Ernsthaftigkeit, an intellektueller Abenteuerlust und – Sitzfleisch.

Mit den anderen beiden Tourneeprogrammen (das Brahms-Requiem in der Rihm-Fassung sowie Beethovens Neunte kombiniert mit Ligeti und Ustwolskaja) seien die japanischen Veranstalter anfangs überhaupt nicht glücklich gewesen, berichtet Dieter Rexroth, der Dramaturg, und kann sich ein kleines diebisches Funkeln in den Augen nicht verkneifen. Auch wenn die Klassik-Krise in Japan vergleichsweise noch in den Kinderschuhen steckt (allein Tokio verfügt über acht ausgewachsene Konzertsäle und acht oder neun Sinfonieorchester, die bislang alle überleben), so gelten Komponisten wie Beethoven oder Brahms in einer Weise als unantastbar, ja heilig, die eben jene Krise heraufbeschwört. Was droht, sind Verkrustung, Erstarrung, ein Absterben des einstmals Lebendigen – ganz wie bei uns, nur dass derlei Erosionsprozesse auf dem freien Markt ungleich schneller und erbarmungsloser ihr bitteres Ende finden –, und es wäre gewiss vermessen zu glauben, ausgerechnet ein Berliner Orchester könnte alldem nun erfolgreich die Stirn bieten. Wissen aber soll die (japanische) Welt schon, schmunzelt Rexroth, wie das gelobte Land der Dichter und Denker mit seiner Tradition umgeht. Im Übrigen könne es musikalisch nie schaden, ein gleichsam moderneres, leichteres, durchlässigeres und also „asiatischeres“ Hörbild des „Deutschen“ zu entwerfen.

Auf Anhieb freilich wollte dem DSO dieses Unterfangen nicht recht gelingen. Der Jetlag, gewiss, und der trotz intensiver Vormittagsproben doch widrige Umgang mit den wechselnden örtlichen Bedingungen. Die Tokio Opera City Concert Hall etwa ließ es akustisch kräftig knallen, was Strauss’ „Zarathustra“ zu einem streckenweise aberwitzigen Parforceritt werden ließ: Mit schweren Hufen über Nietzsches versammelte Abgründe hinwegfegend und das Dekonstruktivistische, Fratzenhafte des Klangbildes eher vertuschend. Mut auch einmal zur Geschmacklosigkeit, zum frechen Fliegenwollen – das ist es, was Nagano für diese Musik ganz offensichtlich fehlt.

Auch das Beethoven-Konzert kam denkbar erdennah daher. Über einem äußerst kompakten Orchesterblock schienen sich Nagano und die Geigerin Viviane Hagner partout nicht darauf einigen zu können, wer von ihnen nun eigentlich die Initiative ergreifen sollte. Ein Patt also, für das Hagner – neben einigen sehr starken, tonschönen Momenten im ersten Satz – mit technischen Unsicherheiten bezahlte und mit einem komplett unerfüllten zweiten Satz. Dieser Beethoven entpuppte sich als vollständig ehrgeizlos: Weder rief er zur Revolution auf noch provozierte er Kommunikation, Dialog.

Wie glückhaft hingegen und von welch grandioser innerer Spannung getragen: das Brahms-Requiem am darauf folgenden Tag. Lag’s an der Suntory Hall, die der Berliner Philharmonie nachempfunden ist? Lag’s am fabelhaft disponierten Rundfunkchor für dessen tief leuchtende und doch gleichsam unbescholtene Stimmen diese Partitur geschrieben zu sein scheint? Oder lag’s nicht vielmehr daran, dass Kent Nagano per se Stücke besser liegen, die weniger vom Verlust der Kontrolle leben und vom Transzendieren des Motorischen an sich, als vielmehr – wie bei Brahms und Rihm – vom Beschreiten breiter Gipfelgrate, vom Bauen gewisser Klangarchitekturen? Die Japaner jedenfalls waren an diesem Abend zufrieden.

Beim Empfang der Deutschen Botschaft für 120 Tokioter Schulkinder gleich zu Beginn der Reise übrigens wurden die sehr artig Byrd, Hindemith und Mozart lauschenden lieben Kleinen gefragt, wer schon einmal in einem klassischen Konzert gewesen sei? Ein Fingerchen hob sich, höchstens zwei. Und wer denn eine klassische CD zu Hause habe? Viele Fingerchen. Vielleicht ist Tokio letztlich ja doch nicht so sehr anders.

Christine Lemke-Matwey

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