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Kultur: Die Strahlkraft

26. April 1986: Der Atomreaktor von Tschernobyl explodiert. Vorher war Umweltpolitik etwas für Spinner – danach lebensnotwendig

Brigitte Wellhöfers Leben hat sich am 1. Mai 1986 für immer verändert. Ausgerechnet an dem Tag, an dem den Deutschen klar wurde, dass die Folgen des Super-GAUs in Tschernobyl nicht auf die Ukraine, Weißrussland oder Russland beschränkt bleiben würden, machte ihr damals dreieinhalbjähriger Sohn einen Ausflug und wurde pitschnass geregnet. Am 1. Mai stand die radioaktive Wolke aus Tschernobyl direkt über Bayern – und der Regen verteilte das radioaktive Jod 131 und das strahlende Caesium 137 über das Land. Das zweite Kind von Brigitte Wellhöfer war gerade mal ein dreiviertel Jahr alt. Eine Woche vorher hatte sie aufgehört, es zu stillen. Welche Milch durfte es noch trinken, denn Frischmilch war radioaktiv belastet? Brigitte Wellhöfer war verzweifelt auf der Suche nach Informationen und sehr wütend. Ihre Empörung hat sie sogar zurück in die Politik getrieben, dabei „war ich während des Studiums Mitglied in einer K-Gruppe. Und danach habe ich gesagt: Nie wieder.“ Nachdem am 26. April 1986 der Reaktor in Tschernobyl explodiert war, ging Wellhöfer als Erstes zu den „Müttern gegen die Atomkraft“. Heute ist sie Fraktionsvorsitzende der Grünen im Gemeinderat der Stadt Nürnberg – und ziemlich zufrieden mit dem, was sie dort erreichen kann. Ihr Sohn hat bisher keine bleibenden Schäden vom radioaktiven Regen davongetragen. Doch das nagende Gefühl der Ungewissheit quält Brigitte Wellhöfer bis heute.

Plötzlich war die Apokalypse Alltag geworden. Die Schreckensszenarien der Warner, die zuvor als Spinner abgetan worden waren, waren Wirklichkeit geworden. Die Katastrophe in Tschernobyl wirkte wie ein Katalysator, ein Beschleuniger, für die Umweltpolitik und die Umweltbewegung in Deutschland. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und Greenpeace verzeichneten enorme Zuläufe. Der WWF, der sich zwar 1986 in World Wide Fund for Nature umtaufte, sich damals aber überhaupt nicht mit den Folgen von Tschernobyl beschäftigte, wuchs zwischen 1980 und 1988 von 20 000 Mitgliedern in Deutschland auf 100 000. Die meisten traten nach der Atomkatastrophe bei. Inzwischen sitzen viele Akteure von damals in der öffentlichen Verwaltung oder in Ministerien. Die Grünen wurden nach Tschernobyl deutlich ernster genommen und erlebten bei der Bundestagswahl 1987 einen beachtlichen Wahlerfolg. 1986 hätte Michael Sailer, der beim Öko- Institut in Darmstadt die Atomabteilung leitet, noch laut gelacht, hätte ihm jemand gesagt, dass er 2002 zum Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission (RKS) gewählt werden würde. Inzwischen ist er einer der wichtigen Regierungsberater, wenn es um die Sicherheit der noch laufenden Meiler geht. Auch Klaus Töpfer, der 1985 zum Umweltminister in der Landesregierung von Rheinland-Pfalz berufen worden war, hätte sich vor Tschernobyl nicht träumen lassen, dass ausgerechnet er, der CDU-Politiker, zu einer zentralen Figur der deutschen Umweltpolitik werden würde. Denn einerseits war er dem damaligen Kanzler Helmut Kohl (CDU) ein wenig unheimlich und zu unkonventionell. Auf der anderen Seite stand er von Anfang an auf der anderen Seite, der Seite, die in den Tagen nach der Katastrophe ahnungslos bis ignorant reagiert hatte.

Im Rückblick sagt Töpfer über den Super-GAU in Tschernobyl: „Dieses Ereignis hat mich natürlich geprägt. Es hat mir deutlich gemacht, welche Verantwortung wir übernehmen, wenn wir eine solche Technologie nutzen.“ Trotzdem gehörte Töpfer nie zu den Befürwortern eines Ausstiegs aus der Atomkraft. Zwar findet er es richtig, die existierenden Reaktoren in einem vereinbarten Zeitraum abzuschalten, wie er kürzlich der „Zeit“ anvertraute. Damit meint er aber nicht, dass die Atomkraft nicht weiter genutzt werden soll. Er wünscht sich nur Technologien, die weniger leicht für die Entwicklung von Waffen missbraucht werden können und im Betrieb sicherer sind. „Was Menschen einmal erfunden haben, wird auch genutzt werden“, sagt Töpfer. „Was ich aber aus Tschernobyl gelernt habe, ist, wie abhängig wir von den Sicherheitsmaximen anderer sind.“ Im Gegensatz zum damals zuständigen Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) entschied sich Töpfer 1986, den Schutz der Bevölkerung in den Mittelpunkt seiner Politik zu stellen. 1988 allerdings war er noch einmal als großer Verharmloser aufgefallen. Damals sprang er im Taucheranzug in den Rhein, um damit zu beweisen, dass der Fluss sauber sei. Zwei Jahre zuvor waren nach einem Explosionsunfall im Schweizer Chemiekonzern Sandoz große Teile des Löschwassers in den Rhein geströmt. Ein Ausrutscher, insgesamt genießt Töpfer bis heute in der Umweltbewegung einen guten Ruf. Nach Tschernobyl „haben wir ganze Ernten unterpflügen lassen und die Bauern entschädigt“, berichtet er. Aber wenige Kilometer westlich, in Frankreich, hätten ganz andere Regeln gegolten. Die Pariser Regierung beharrte monatelang darauf, dass die radioaktive Wolke an der französischen Grenze einen Umweg um das Land herum gemacht habe. Jedenfalls behauptete sie, es gebe in Frankreich keine erhöhten Werte von Radioaktivität – außer vielleicht in Wildschweinen, die wegen der ausschlagenden Geigerzähler nicht mehr nach Deutschland exportiert werden durften. Töpfer sagt dazu: „Wir Umweltpolitiker haben damals als Erste erfahren, was Globalisierung heißt.“

Mit Töpfer begann die bundesdeutsche Umweltpolitik Substanz und Profil zu gewinnen. Ihm ist beispielsweise die Verpackungsverordnung zu verdanken, deren Spätfolge das Dosenpfand ist. Seither trennen die Deutschen akribisch ihren Müll. Töpfer vertrat Deutschland beim Erdgipfel 1992 in Rio und legte den Grundstein für die deutsche Klimapolitik.

Vermutlich hätte die Regierung des damaligen Kanzlers Helmut Kohl (CDU) nach der Wahl 1987 auch ohne Tschernobyl ein Umweltministerium geschaffen. Doch nach dem Unfall stand die schwarz-gelbe Koalition derart unter Druck, dass plötzlich alles ganz schnell ging. Zuvor hatte die Umweltbewegung schon mehr als ein Jahrzehnt vergeblich die Schaffung eines eigenen Ministeriums gefordert, erinnert sich Hubert Weinzierl, einer der Gründer des BUND. Schließlich hatte das Land Bayern schon 1970 einen Umweltminister berufen – er war der erste in ganz Europa. Doch nach Tschernobyl „musste Kohl handeln“.

Vorher gehörte der Umweltschutz zum Innenministerium, das damals von Friedrich Zimmermann geführt wurde. Hubert Weinzierl trägt ihm bis heute nach, dass er „diese dümmliche Verniedlichung“ der Folgen des Atomunfalls mitbetrieben habe. Jedenfalls war auch Kohl schon wenige Tage nach dem Unfall in der Ukraine überzeugt, dass der aufbrausende und immer etwas herablassende Zimmermann nicht der Richtige war, um die Gemüter zu beruhigen. Das sagte er gut zwei Wochen nach der Katastrophe seinem alten Rivalen Franz Josef Strauß (CSU), der seinem Parteifreund Zimmermann die Nachricht von seiner teilweisen Entmachtung selbst überbrachte. Mit zwei Abteilungen aus dem Innenministerium, und je einer Abteilung aus dem Landwirtschafts- (Ignaz Kiechle, CSU) sowie dem Gesundheitsministerium (Rita Süßmuth, CDU) übergab Kohl das Amt des Umweltministers an den damaligen Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, Walter Wallmann. Am 6. Juni 1986 wurde Wallmann vereidigt. Er selbst bezog ein Büro im Kanzleramt, seine neuen Mitarbeiter blieben in ihren alten Büros in den entmachteten Ministerien. So blieb es, bis Wallmann kein Jahr später wieder aus dem Amt schied, um Ministerpräsident in Hessen zu werden. Kohl hoffte, dass er mit seiner Hauruck- Aktion zumindest die Landtagswahlen in Niedersachsen würde retten können – ein Kalkül, das aufging. Auch seine Erwartung, dass er dem Koalitionspartner FDP das Umweltthema aus der Hand nehmen könnte, womit sich die Liberalen damals gerne selbst profiliert hätten, erfüllte sich. Die Liste der Erfolge Wallmanns als Umweltminister dagegen blieb überschaubar. Klaus Lipphold, der damals schon für die CDU im Bundestag saß und heute Vorsitzender des Verkehrsausschusses ist, hält Wallmann zugute, dass er die Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke verschärft habe. Und das, obwohl „wir damals schon führend waren“, wie er meint.

Das hatte auch Zimmermann immer gesagt. Und mit diesem Optimismus stand er damals nicht allein. Seinen Kollegen aus Baden-Württemberg, Gerhard Weiser (CDU), zitierte der „Spiegel“ am 12. Mai 1986 mit den Sätzen: „ Es gibt keinen Krisenstab, weil es keine Krise gibt.“ Und weiter: „Wenn wir den Unfall bei uns im Land gehabt hätten, dann wäre alles geregelt gewesen.“ Sätze, über die Michael Sailer noch heute nur lachen kann. Vor 20 Jahren waren er und seine Kollegen wochenlang so gefragt, „dass wir 24 Stunden hätten durcharbeiten können“. Mit gerade mal zwei Amtsleitungen waren die Mitarbeiter des Öko-Instituts eine der wenigen Institutionen, in die die verunsicherten Deutschen noch Vertrauen hatten. Denn Minister Zimmermann und seine Kollegen hatten recht zufällig für die verstrahlte Milch einen Grenzwert von 500 Becquerel pro Kilogramm festgesetzt, für Salat und anderes Blattgemüse die Hälfte. Dabei habe es kaum Informationen über die Wirkung „schwacher Strahlung“ auf den Menschen gegeben, sagt Sailer und streicht sich seine auch heute noch langen dunklen Haare hinter das Ohr. Der Grenzwert sei wohl vor allem dadurch zustande gekommen, dass die Milch Jod- 131-Werte aufwies, die unwesentlich unter der magischen Grenze lagen. Denn die Milch sollte nicht weggeschüttet werden müssen. Am Ende musste Finanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU) wegen Tschernobyl dann doch rund eine Milliarde Mark ausgeben, um die Bauern zu entschädigen. Die rot-grüne Regierung in Hessen setzte schließlich auf den Rat des Öko-Instituts einen Grenzwert von 20 Becquerel für die Milch fest. Und wenige Tage später fand Sailer bei einem Besuch in Bonn an der Bundestagskantine den Hinweis, dass die Lebensmittel dort „hessischen Grenzwerten“ entsprächen. Das erheitert ihn noch heute.

Die Amtshilfe des Öko-Instituts für die hessischen Behörden ging noch weiter. „Der deutsche Katastrophenschutz hat überhaupt nicht funktioniert“, erinnert sich Sailer. „Wir hatten natürlich auch keine Notfallpläne“, sagt er weiter. „Wir waren nur schneller.“ Er und seine Kollegen vermittelten Studenten für Messungen an die Behörden, „und die Tiefkühlbeutel für die Testate haben wir auch noch spendiert“.

Aus Sailers Sicht ist die größte Veränderung in der Atomdiskussion, dass „vor Tschernobyl ja keiner geglaubt hat, dass es so schwere Unfälle geben kann“. Unter Fachleuten sei der Super-GAU unter dem Stichwort „hypothetischer Kernschmelz-Störfall“ gehandelt worden, weil ja nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Deshalb habe sich auch niemand darauf vorbereitet. Doch der Unfall in der Ukraine fiel mitten in eine hitzige Atomdebatte. „Die Nachricht erreichte uns bei einer Demonstration gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf“, erzählt BUND-Gründer Hubert Weinzierl. Er sitzt in seiner kleinen Burg in Bayerischen Wald und legt sein Gesicht in nachdenkliche Falten. Doch nach Tschernobyl verloren die Betreiber bald die Lust, sich weiter mit besorgten Müttern und anderen Atomkraftgegnern zu streiten. Zwar machten sie ökonomische Gründe dafür geltend, dass sie auf den Bau in Wackersdorf verzichteten. Doch ohne Tschernobyl hätte sich diese Erkenntnis womöglich nicht so schnell durchgesetzt.

Ein gutes halbes Jahr nach der Katastrophe war Walter Wallmanns Kommunikationstalent wieder gefragt. Am 1. November brannte in Basel auf dem Gelände des Chemiekonzerns Sandoz (heute Novartis) eine Lagerhalle mit 1000 Tonnen Chemikalien. Die Folgen waren dramatisch. Wobei das Fischsterben nur das sichtbarste Zeichen dafür war. Wallmann indes blieb blass. Außerparlamentarisch aber wirkte der Sandoz-Unfall ähnlich wie Tschernobyl: Die Deutschen traten den Umweltverbänden massenhaft bei.

Seitdem die rot-grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) mit den Betreibern einen Konsens zur Abschaltung der damals noch 19 deutschen Reaktoren geschlossen haben, ist das Thema politisch mehr oder weniger erledigt. Zwar beklagen Umweltschützer, der Atomkonsens sei Betrug, von Ausstieg könne keine Rede sein, wenn die Meiler zum Teil noch zwanzig Jahre lang laufen. Und mit dem Bau der Zwischenlager bei den Atomkraftwerken werde ja nur deren Weiterbetrieb möglich gemacht, kritisiert Erika Bräunling von den „Müttern gegen Atomkraft“.

Es waren solche Frauen, die nach Tschernobyl aktiv geworden sind und damit die Politik verändert haben – zumindest in vielen Gemeinderäten. Bräunling sagt: „Wir werden das nie mehr los, diesen Schock.“ Sie erinnert sich: „Am ersten Tag hat noch keine gedacht, dass wir ein politischer Verein wären, am dritten aber schon.“ Genau das hat neben Brigitte Wellhöfer vor allem in Bayern, wo die radioaktive Wolke die meisten Spuren in Deutschland hinterlassen hat, weitere aufgebrachte Mütter in die Gemeindeparlamente getrieben. Eine von ihnen ist Dorette Sprengel, die im Stadtrat der Kleinstadt Dorfen für die Grünen an kommunalen Energiekonzepten arbeitet. Über vieles müsse heute nicht mehr diskutiert werden. Zum Beispiel über Energiesparkonzepte für öffentliche Gebäude. Ohne Tschernobyl hätte das gewiss länger gedauert. Tschernobyl hat Umweltpolitik konsensfähig gemacht.

Eines hat sich aber bis heute nicht verändert, beklagt Hubert Weinzierl. Die Frage, ob eine Technik, die die Menschen mit dem Atommüll auf zehntausende von Jahren bindet, überhaupt genutzt werden darf, sei nie geklärt worden. In einer Anhörung zu Wackersdorf stellte er 1986 diese Frage einmal dem damaligen bayerischen Umweltminister Alfred Dick (CSU). Die Antwort lautete: „Fragen der Moral und Ethik sieht das Atomgesetz nicht vor.“

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