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Facebook, Timeline und die Folgen: Die totale Erinnerung

Von Hufen und Implantaten, von einer Zukunft, die mit Facebook und seiner "Timeline"-Kralle und auch mit den Fortschritten in der Neurobiologie schon begonnen hat: Benjamin Steins Roman „Replay“.

Kafka gleich zu Beginn ist die vielversprechendste literarische Referenz, die Benjamin Stein sich in seinem Gegenwarts- und Zukunftsroman „Replay“ erlaubt, dicht gefolgt von Borges, Orwell, dem mexikanischen Filmemacher Guillermo del Toro und dem chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana. Einen Huf statt seines Fußes meint Steins Ich-Erzähler Ed Rosen eines dunklen Morgens an sich wahrzunehmen. Eine Erscheinung? Ein „böses Omen“, das weiß er bestimmt. „Denn Wohlbefinden steigt bei mir von den Füßen auf. Sie mir zu nehmen und durch Hufe zu ersetzen, wäre definitiv eine Strafe, eine schmerzliche und perfide, denn wenn es etwas gibt, das ich an mir liebe, dann sind es meine Füße. Oder sollte ich in der Vergangenheit denken: liebte?“

Tatsächlich begibt sich Rosen zunächst in die Vergangenheit, um sich der Verwandlung zu erinnern, die er durchgemacht hat. Denn Rosen, Kind jüdischer Eltern, von Beruf Informatiker, Spezialist für komplexe Softwaresysteme, räumlich sehbehindert aufgrund eines „aufsässigen und geschundenen Auges“, lernt während eines Vorstellungsgesprächs bei einer Firma im Silicon Valley den Maturana nachgebildeten, geheimnisvollen chilenischen Professor Matana kennen. Als Chef des Unternehmens will Matana mit noch nicht erprobten Sensoren und Implantaten Blinde sehend machen. Zumal er selbst mit einem Körper geschlagen ist, „an dem nichts zusammenpasste“, mit einem Buckel, einem verkürzten linken Bein, einem steifen Arm, einer steifen Kinderhand. Matana stellt Rosen ein, gezielt, wie sich herausstellt. Schon bald bietet er ihm an, der erste Träger des neu entwickelten Implantats zu sein. Es klappt: „Das Implantat war mit meinem Nervengewebe verwachsen. Mein Körper stieß es nicht ab, und nachdem ich nun über zwei funktionierende Augen verfügte, begann mein Hirn sich zu adaptieren.“

Es dauert ein wenig, bis Stein in seinem schlanken, flüssig erzählten Roman die Handlungsfäden ausgelegt hat. Bis offensichtlich wird, worauf es hinausläuft: auf eine Zukunftsvision, die so visionär nicht mehr ist, auf eine Parabel unserer Smartphone-, Facebook– und GoogleWelt. Wieder räumlich sehen können, ist für Ed Rosen das eine, doch die Sache weitet sich aus.

Das UniCom, wie das Implantat heißt, wird weiterentwickelt. Seine Träger sind ständig online, jederzeit erreichbar und kontrollierbar, es vermag Sinneseindrücke zu speichern und abzuspielen. Nicht eine einzige Erinnerung geht mehr verloren. Und so tritt es seinen kommerziellen Siegeszug an, der Matanas und Rosens Firma die Weltherrschaft übernehmen lässt – und ausgerechnet ein Transparenzapostel wie Julian Assange wird zu einem „Anonymen“, einem Bewohner der „Insel der Gestrigen“. Assange bringt die Folgen von UniCom auf den Punkt, „beschwört Orwell, bezeichnet die Corporation als Big Brother Trust und behauptet, wir hätten nunmehr endgültig die Schreckensvision der Televisoren zur flächendeckenden Realität gemacht.“

Dass es in dieser ,von Rosen auch „digitales Arkadien“ genannten , Welt noch heftig rumpelt, liegt an der Figur des Pan. Rosen begegnet ihr erstmals auf einem Bild in einer Ausstellung. Pan ist das Gegenmodell zur schönen neuen digitalen Welt, der mythisch-göttliche Mensch-Naturzwitter mit seinen Hörnern und Hufen. Pan verkörpert den Eros, die Lust und katalysiert Rosens sexuelle Gier, der er sich dank seines UniComs und Freundin Katelyn ergibt. Seine höchste Freude: das gemeinsame Driften in den Replays des anderen.

Steins Roman bleibt technisch gut nachvollziehbar. Den Wattschen Dampfregler versteht man genauso gut wie von Stein geprägte Begriffe, das „Driften“ oder die „Switchbox“ . Das funktioniert so gut, dass stets offensichtlich wird, wie hier eine in ihrer Überforderung und trotzigen Hartnäckigkeit an Kafkas Helden gemahnende Figur wie Rosen von der Gegenwart komplett eingeholt wird, sich aber auch aus der „Zwischenwelt“ nicht wirklich mehr zu befreien vermag.

Hier die Technologie, die alles ermöglicht, nicht zuletzt ein unerbittliches Gedächtnis, dort der Mensch, der sich heillos darin verirrt, der Gefühle kennt, Eifersüchteleien, Grenzüberschreitungen, darauf läuft es am Ende hinaus. Hier die Biologie der Liebe, dort die Biologie der Erkenntnis. „Ich kann mich erzählen lassen oder mich selbst erzählen in immer neuen Varianten“, freut sich Rosen einmal. Aber wer will das schon? Wer will schon die totale Transparenz, die totale Erinnerung? Nie war das Vergessen so wertvoll wie heute – auch davon erzählt Steins Roman.

Benjamin Stein: Replay. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2011.171 Seiten, 17, 95 €.

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