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Kultur: Die Tür zur Welt

Triumphale Rückkehr: Claudio Abbado dirigiert erstmals nach seinem Abschied von Berlin wieder die Philharmoniker

Hans Scharoun mochte keine Türen. Darum platzierte der Architekt in seiner Berliner Philharmonie die Eingänge so, dass sie von den Sitzplätzen aus nicht sichtbar sind. Für die Besucher hat das einen entscheidenden Vorteil: Sie hören den Saal früher, als sie ihn sehen. Während man noch die Schleuse zwischen Foyer und Halle passiert, klingt einem schon gedämpft das Stimmengewirr aus den Rängen entgegen, ein diffuses Geräusch, das dem Eintretenden das Gefühl vermittelt, in eine Parallelwelt abzutauchen.

Am Mittwoch ist das Summen und Brummen besonders erwartungsfroh: Claudio Abbado kehrt erstmals nach dem Ende seiner Chefdirigentenzeit wieder zu den Berliner Philharmonikern zurück – und das zweijährige Warten seiner Fans entlädt sich im restlos ausverkauften Saal schon beim ersten Erscheinen des Maestro in einem prasselnden Applaus, wie man ihn selbst in diesem Haus nur selten zu hören bekommt. Wiedersehensfreude dominiert auch bei den Philharmonikern: Sie folgen ihrem ehemaligen Chef an diesem Abend mit höchster Konzentration und absoluter Hingabe.

Claudio Abbado, der nach den Torturen seiner Magenkrebsbehandlung wieder vollkommen hergestellt, ja geradezu kraftvoll wirkt, bedankt sich auf seine Art: Da sind zunächst diese unendlich feinen Pianissimo-Schattierungen in Frank Martins „Jedermann“-Musik von 1949. So filigran, wie Abbado den Orchestersatz spielen lässt, nimmt er ihm viel von seiner Herbheit – und setzt damit einen klugen Kontrapunkt zum eindringlichen Gesang seines Solisten Thomas Quasthoff. Der singt die Monologe des Jedermann mit doppelter Stimme: Unterm wuchtigen Pathos des großen Mimen lässt er nackte Todesangst mitschwingen. Wen packte da nicht Mitleid mit dieser armen Seele?

Im Zentrum aber steht Gustav Mahler: Abbado hat dessen sechste Sinfonie ausgewählt, die „Tragische“. Doch der romanhafte Aspekt der Tondichtungen interessiert ihn diesmal nicht, er sucht zwischen den Notenlinien weder nach Autobiografischem noch nach dem Kampf des Helden mit dem Schicksal oder was Exegeten in diese monumentale Musik sonst noch hineingelesen haben. Abbado bleibt abstrakt, aber auf eine sinnenbetörende Art wie Kandinsky: Mag das wilde Klanggeschehen auch oft nach kunstvollem Chaos klingen, am Ende fügt sich das Disparate doch zum stimmigen Gesamteindruck; dem Abbild der Moderne freilich, der Epoche nach dem Ende der Gewissheiten, in der das Nebeneinander von weltentrücktem Kuhglockengeläut und jazziger Maschinenmusik zum Alltag gehört. Diese Zeit, so lautet Abbados Fazit, hatte für Feinfühlige wie Gustav Mahler bereits 1903 begonnen, als der sich an die Komposition seiner sechsten Sinfonie machte.

Abbado, das wird an Abenden wie diesem deutlich, ist in seiner Arbeitsweise Hans Scharoun recht ähnlich. So wie der Architekt die Form der Philharmonie vom Zentrum aus entwickelte, also bei der Bühne begann und nicht, wie sonst üblich, bei der Fassade, so geht auch Abbado stets von einem geistigen Kern aus, der dann wie ein ins Wasser geworfener Stein auf die gesamte Partitur ausstrahlt. Beide Künstler neigen allerdings dazu, die Zugänge zu ihren klugen Gedankengebäuden zu verstecken. Am Mittwoch waren alle Türen weit geöffnet.

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