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Kultur: Die Übermacht der Kleinigkeiten

Grundlagenforschung im Nachkriegsdeutschland: Ralph Dohrmanns Debütroman „Kronhardt“.

Da braucht es schon verlegerische Selbstgewissheit, einem Quasi-Debütanten des Jahrgangs 1963 einen Wälzer von über 900 Seiten durchgehen zu lassen, der auf den ersten Blick nach Uwe Tellkamp oder Eugen Ruge in Westwährung aussieht und beim ersten Anblättern verdammt wie „Alles muss mal in einem Buch raus“ wirkt. Doch hat man den ersten Satz überstanden, liest man sich fest: Das wirkt doch ziemlich anders als das Allermeiste – hochdosiert und übervoll. Zudem bietet es eine Achterbahnfahrt durch Kindheit und Schule, Familie und Freundschaften, Bremen und die Erdgeschichte, Nachkriegsdeutschland und die ganze Welt.

Vom erinnerten Ersten Weltkrieg bis über den Tod von Bin Laden hinaus steuert „Kronhardt“ durch ein sich ständig erneuerndes Gewebe aus Wissen, das Taubenscheiße ebenso wie Schmetterlinge und Magie einbezieht, spukhafte Fernwirkung wie den georgischen Schädel. Was gleich eingangs Hausarzt Dr. Blask, eine Art Gottfried Benn, an dem die Nazis allerdings perfide Versuche unternahmen, dem kranken Kind mit auf den Weg gibt, dass nämlich unser „Organ für Werterlebnisse, für Größe und Erhabenheit, in dem sich alle Sinne des Menschen – das Mächtige des Lebens – ja, das Übermächtige offenbaren können“, die Zeit auch rückwärts laufen lassen könne „und die Naturgesetze lösten sich auf“. Stattdessen verpflanzten die Menschen „ihre knöchernen Zeiten von einem Kopf in den nächsten“, „Deutsches Reich, Bürgertum, Hitlerfaschismus“ – all das scheint der Roman mit seiner unendlichen Geschichte exerzieren zu wollen.

Es ist die Geschichte von Willem, dessen Vater früh gestorben ist und dessen Mutter den Bruder des Vaters geheiratet hat, um den dynastischen Stickereibetrieb bruchlos von den Hakenkreuzaufträgen zu Besatzeremblemen und Neureichenwappen fortzuführen. Die Mutter ist ein Überwachungsmonster, wie nach Ansicht des fetten Musterschülers Konrad die Weiber ohnehin nicht vor Krieg, Wissenschaft und Technik zurückschreckten, um endlich zu einer jungfernzeugenden Gesellschaft ohne Männer zu gelangen. Willem will der Mutterwelt entkommen und zugleich einer werden, der er selbst ist. Nicht wie die meisten, für die es einfacher sei, „jemand zu sein, der sie nicht sind“. Willem versucht das durch Anpassung, äußerlich, denn nicht mal die Mutter konnte wissen, „wer da wirklich in ihm steckte“.

Wir merken, dass wir in einem Bildungs- als Individuationsroman stecken. In dem wirkt keine Turmgesellschaft, sondern die geduldige Abstoßung von der Unbedingtheit der Mutter. Obwohl die Schule – ein intensiver Kursus durch Typen, Situationen und Merksprüche – hart ist, ein Flitzebogen zwischen vulgärpuerilem Vitalgewese und unersättlichem Wissenssog, kommt Willem nicht unters Rad. Am Ende ist er auch kein Sorgenkind, das desinteressiert in den Kriegstod entlassen wird, sondern eine entschleunigte, moderat hedonistische Oblomow-Existenz, die froh über ihre Zeugungsunfähigkeit ist und in ihrer zivilisatorischen Vervollkommnung den Mann ohne Eigenschaften leicht übertrifft.

Bis dahin ist es allerdings ein langer Weg, den man, von immer wieder neuen Begebnissen, Einfällen, Spekulationen und Konstellationen und einer oft packenden Sprache mitgerissen, bis etwa zur Hälfte des Buchs mitgeht, ehe man der immer neuen Wendungen des einen Prinzips der Adaption an die Umwelt als zugleich Subversion und innere Losgelöstheit müde zu werden beginnt.

„Im Grunde nichts weiter als die Auflösung des Starrsinns zugunsten eines Systems, das flexibel genug sei, um Strategien zu entwickeln, die sich erst in der Zukunft beweisen oder widerlegen ließen. Doch wenn man dieses Denken umsetze, könne man den Strömungen der Zeit nicht nur voraus sein, sondern sie lenken“: Das doziert ziemlich genau mittig Barbara, Willems baldige Frau. Dem nüchterneren Leser will sie eher als Variante der Mutter in netter Form erscheinen, aber Willem wird sie bis zum Ende innig lieben.

Dass man dieser Welt am Stickfaden der Mutternorne dann doch weiter zusehen will, dafür sorgt ein Trick: Es treten nämlich zwei Detektive auf. Ramow & Ramow sollen die Umstände des Vatertods klären. Das dauert und dauert, wird dafür aber zu einem Thomas-Pynchon-Pastiche gesteigert. Schräg und aberwitzig geht es und hoch her, bis sich herausstellt, dass die Emigration des Vaters in die Schweiz ein abgekartetes Spiel zum Wohl der Firma und sein Tod wiederum ein Mordkomplott von Mutter und Bruder war. Auftritt dafür zudem ein Überbösewicht, von Wrangel, Nazi, DDR-Bonze und Wissenschaftshäuptling, der Gelegenheit zu neuerlich ausschweifenden Geschichts-Geschichten gibt. Spätestens hier fragt man sich, ob es vielleicht so etwas wie ein norddeutsch-rabulistisches Frank-Schulz-Gen gibt.

Als gegen zwei Drittel des Romans Willem ungeduldig wird, weil die Detektive nicht nur „ziemlich detailliert“ nachforschen, sondern das noch detaillierter erzählen, antworten die: „Das klingt ja, als ob Ihnen ein paar Brocken reichten, um gleich die ganze Geschichte des Lebens zu rekonstruieren. Und wenn wir Kleinigkeiten aufdecken, ist das keine Zeitverschwendung, sondern Grundlagenforschung.“ Das kann man als Credo des Romans ansehen. Doch hat all dies nichts mit Realismus zu tun, jedenfalls nicht mit einem, der die Geschichte der eigenen Familie hier und da auf- oder herunterputzt und andere Namen einsetzt, um das dann Roman nennen zu können.

Wenn überhaupt, ist dies hier eine Art Programmrealismus – eine aus Erfahrenheitsillusion stammende Sicht auf das rechte Leben und den langen Weg dahin. Auch die Figuren aus der Umwelt, ob Hans mit der Hasenscharte oder Cola-Opfer Siegfried, die spanische Inez oder der Mexikaner und die vielen, vielen mehr, sie sind mehr Typen der Menschheitseinteilung als Realpersonen mit ihren Kontingenzen. Doch gerade dadurch wird daraus Literatur – freilich nicht als verdichtetes, sondern hoch angereichertes Ganzeweltkonstrukt: waghalsig, abenteuerlich, sich hin und wieder in Quatsch und Kitsch vergaloppierend, meist aber von einem Wirbel aus Wissen und Geschichten, Gefundenem und Erfundenem hingerissen, oft durchaus großartig. Ob auch große Literatur? Das steht eher einer souverän disziplinierten Lebensgeschichte wie Michael Kleebergs „Karlmann“ zu. Zu leicht gerät die sich selbst steuernde Adaption in solch überreicher Nährstofflösung in die Nähe der Apologie eines esoterischen Faulenzens. Von seiner Figur unterscheidet den Autor indes nachhaltig, dass er am Ende etwas geleistet hat, das nicht in Selbstsorge aufgeht, sondern seinen Lesern zugute kommt.

Schließlich dies: Wo die historischen Ostpanoramen den Westen zu ignorieren pflegen, weil sie ihn ja aus dem Fernsehen kannten, interessiert sich dieser Roman auch für ihre, an ihm gemessen, doch recht kleine Welt.

Ralph Dohrmann: Kronhardt. Roman.

Ullstein Verlag,

Berlin 2012.

922 Seiten, 24,99 €.

Erhard Schütz

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