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Familienzurechtrückung. She She Pop mit ihren Vätern, die sie in „Testament“ auf die Bühne holen. Die Doku-Revue läuft Dienstag, 10.5, um 20 Uhr sowie Mittwoch, 11.5., und Donnerstag, 12.5., um 16 und 20 Uhr im Haus der Berliner Festspiele.

© She She Pop

Dokumentartheater: Die Übernahme hat stattgefunden

Welterforschung statt Nabelschau: Die lebendigsten Impulse kommen heute aus dem Dokumentartheater. Die neuen Helden: Müllsammler, Ölsucher und Natascha Kampusch.

Das waren noch Zeiten, als die Performance-Gruppe Showcase Beat Le Mot wütende Manifeste gegen die herrschende Stadttheaterpraxis verfasste. „Die Übernahme findet statt“ lautete der Titel, in dem es dann unter anderem hieß: „Besetzt die Staatstheater, vertreibt die Staatstheaterzombies in die Altersheime, sollen sie da weiter darüber nachdenken, was Tschechow uns heute noch zu sagen hat.“

Das war Ende der neunziger Jahre, als das sogenannte postdramatische Theater gerade in aller Munde war und aufgebracht am Gatter des seriösen Theaterbetriebs rüttelte. Einerseits war die Erregung natürlich verständlich. Nach der zwölften Inszenierung von – sagen wir – Tschechows „Drei Schwestern“ mit mehr oder weniger krampfigen Gegenwartsbezügen konnte einen schon eine grundsätzliche Theaterverzweiflung befallen.

Andererseits war das, was das postdramatische Theater stattdessen zu bieten hatte, auf Dauer auch nicht das Gelbe vom Ei. Statt klassische Texte zu interpretieren, brachten die Theatermacher sich und ihre eigene Befindlichkeit ins Spiel, an der dann irgendwie „gesellschaftliche Diskurse“ durchdekliniert wurden. An der Frage, warum man es selbst nicht zum Popstar geschafft hatte, ließ sich zum Beispiel einiges über Medien, Fernsehshows oder Schlankheitswahn erzählen. Statt Rollen einzunehmen, spielten die Theatermacher lieber Super-8-Filme aus ihrer Kindheit vor oder schwangen Tennisschläger, während sie aus Melvilles „Bartleby“ zitierten. Das war hochgradig charmant, bald aber auch hochgradig ermüdend. Kein Plot, dafür achselzuckend vorgeführte persönliche Ratlosigkeit. Man kam sich in diesen Aufführungen entweder schnell vor wie auf der Geburtstagsfeier des Klassenstrebers, der gern cool sein wollte. Oder wie in einer der frühen Geschichten von Judith Hermann. Lebensgefühl war alles.

Lang ist sie her, die Käseglockenzeit. Das Feindbild Staatstheater ist weitgehend passé, und längst sind die Grenzen zwischen Hochtheater und der Freien Szene verwischt. Heute spricht auch kaum noch jemand vom postdramatischen Theater. Dafür aber vom postmigrantischen, das sich der Lebenswirklichkeit sogenannter Migranten (und den Klischeevorstellungen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft) widmet. Und noch viel mehr vom Dokumentartheater, von dem im Moment die lebendigsten, die aufregendsten Impulse ausgehen. Im Sinne der Showcase-Truppe: Die Übernahme hat stattgefunden!

Was sich nun, etwas verspätet, auch in der Auswahl zum diesjährigen Theatertreffen spiegelt. Vom Ballhaus Naunynstraße kommt „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, bei dem eine deutsche Lehrerin unter drohender Zuhilfenahme einer Pistole Migrantenkinder dazu bringt, Schillers „Räuber“ zu spielen. Und mit der Arbeit „Das Testament“ der Performance-Gruppe She She Pop, quasi die weibliche Version von Showcase und ebenfalls in den Neunzigern gegründet, wurde zum ersten Mal eine Produktion vom HAU eingeladen.

Die Performer von damals haben nicht aufgehört, sie haben sich glücklicherweise nur verändert. Ging es früher vor allem ums eigene Lebensgefühl, wird jetzt die Lebenswirklichkeit der anderen verhandelt. Man schaut nicht mehr auf sich selbst, sondern stellt Fragen an die Umwelt. Im Fall von She She Pop zum Beispiel sehr unterhaltsame und sehr heikle an die eigenen Väter. Angelehnt an Shakespeares „König Lear“ geht es um den Generationenwechsel und die Komplikationen, die mit ihm einhergehen. Zum Beispiel um das Rätsel, ob Liebe beim Erben irgendwie verrechnet werden kann. Die Väter der Theatermacher stehen auch selbst auf der Bühne, als beeindruckende Experten des Alltags.

Mit denen, also mit Laien, die aus ihrem Leben berichten, arbeitet die Gruppe Rimini Protokoll schon lange. Mal lädt die Gruppe in ihren Projekten Müllsammler aus Istanbul auf die Bühne, mal Leidtragende der Krise in Griechenland oder in Deutschland aufgewachsene Adoptivkindern aus Vietnam. Gerade hatte am HAU „Bodenprobe Kasachstan“ Premiere, bei der es unter anderem um die Geschichten russlanddeutscher Ölsucher geht. Rimini Protokoll sind zwar nicht im Hauptprogramm vertreten, aber im Rahmen des Theatertreffens wird von ihnen „Radioortung 2–50 Aktenkilometer“ realisiert. Bei dem „begehbaren Stasi-Hörspiel“ wird der Besucher zum „eingeweihten“ Fußgänger, der – am Alexanderplatz startend – über GPS-Telefone durch die Stadt und dabei in die Zeit des Kalten Krieges gelotst wird.

Das diesjährige Theatertreffen ist jünger, spritziger, zeigt Produktionen von kleinen Häusern, heißt es. Es ist aber auch deshalb so vielversprechend, weil es dokumentarischer ist. Natürlich, es gibt auch dieses Jahr den obligatorischen Tschechow, den „Kirschgarten“ in der Regie von Karin Henkel aus Köln. Oder die ewig klassische „Nora“, in der Oberhausener Einrichtung des eher unkonventionellen Regisseurs Herbert Fritsch. Aber es fällt auf, dass auch die zeitgenössischen Stücke, die zu sehen sind, ihren Stoff aus der (meist) allerjüngsten Gegenwart beziehen. Nicht nur „Verrücktes Blut“.

In „Die Beteiligten“ geht es um „den Fall Natascha Kampusch“, wobei die Autorin Katrin Röggla geschickt mit einer doppelten Verfremdung arbeitet. Bei ihr kommt nicht Natascha Kampusch zu Wort, sondern sechs angeblich Beteiligte, die aber ihre Sicht der Dinge so erzählen, als würde die unsichtbare Hauptperson sie wiederholen. In der Trilogie „Das Werk/Im Bus/Ein Sturz“ verhandelt Elfriede Jelinek gleich drei reale Vorfälle, in denen die Natur zurückschlägt. Teil eins handelt vom Bau eines Wasserwerks in den Kapruner Alpen, bei dem zwischen 1928 und 1955 hunderte Arbeiter sterben. Das Mittelstück erzählt von einem Busunfall aus dem Jahr 1994, während es zum Schluss um den Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009 geht – und um die hilflose Reaktion der Stadtoberen.

Am Ende von She She Pops Familienzurechtrückungsabend „Testament“ gibt es eine schöne, vielsagende Szene. Die Väter der Theatermacherinnen stehen, Mikrofon in der Hand, an der Rampe und verzeihen öffentlich ihren Töchtern. Ein Vater sagt: „Ich verzeihe dir, dass du Theater studiert und daraus sogar einen Beruf gemacht hast!“ Als hätte er erst jetzt verstanden, dass Theater keine alberne Spielerei sein muss, sondern ein Ort sein kann, an dem tatsächlich Wichtiges zur Sprache kommt.

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