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Es muss nicht immer Paris sein. Besucher besichtigen die über 200 Louvre-Exponate in Lens. Die Halle ist 120 Meter lang und vollkommen stützenfrei. Foto: AFP

© AFP

Kultur: Die Vermessung der Welt

Im nordfranzösischen Lens hat der Louvre eine Dependance eröffnet. Sie präsentiert Kunst völlig anders als das Stammhaus.

„Dezentralisierung“ ist ein großes Wort, das sich leicht dahersagt, aber nur mit festem Willen zum Leben erweckt werden kann. Noch dazu in einem Land wie Frankreich, in dem es Paris gibt, la capitale, und ansonsten nur tiefste Provinz. Doch auch in Frankreich haben sich die Zeiten gewandelt. Was noch vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen wäre, zum Beispiel dem Louvre-Museum eine Filiale irgendwo in der Region abzuverlangen, gelingt mittlerweile nicht nur, es gelingt sogar auf großartige Weise. Seit Anfang Dezember hat der Louvre Lens, die Zweigstelle in der nordfranzösischen Bergbaustadt, seine gläsernen Pforten geöffnet, um die ersten der erwarteten 700 000 Jahresbesucher zu empfangen. Das Projekt markiert einen weiteren Höhepunkt der knapp zwölfjährigen Amtszeit des Louvre-Generaldirektors Henri Loyrette, der nur eine Woche nach der Eröffnung seine Demission in diesem Frühjahr bekannt gab. Loyrette hat den früher stockkonservativen Louvre in ein agiles Museum nach internationalem Muster umgewandelt; ihm ist es zu verdanken, dass die unlängst eröffnete Abteilung Islamische Kunst überwiegend durch Spender und Sponsoren finanziert wurde. Der 60-jährige Loyrette, so heißt es in Paris, geht auf dem Höhepunkt seines Erfolgs.

Lens, 25 Kilometer vom prosperierenden Lille entfernt, ist der traurige Zeuge des Niedergangs der Industrie. Mit dem Ende des Steinkohlenbergbaus in den sechziger Jahren verfiel die Gegend zur ärmsten, pardon: der „am wenigsten wohlhabenden“ Region ganz Frankreichs, wie die offizielle Sprachregelung lautet. 2003 war es, dass der damalige Kulturminister Jean-Jacques Aillagon die Dezentralisierung des Louvre ankündigte, wenige Monate später stand Lens – neben einer ganzen Reihe benachbarter Städte des Nordens – auf der Matte, und ein weiteres Jahr darauf erhielt Lens, zumindest verkehrsmäßig günstig gelegen, den Zuschlag. Die Finanzierung des 150 Millionen Euro teuren Baus bewerkstelligte nicht die Pariser Zentralregierung, sondern Region, Kommune, Sponsoren und zu einem Fünftel auch der EU-Regionaltopf.

Eine gläserne Galerie, einen langgestreckten, flachen Glas- und Metallbau hat das aus dem Wettbewerb von 2005 siegreich hervorgegangene japanische Architekturbüro SANAA (Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa) gegen den tiefen Himmel des Nordens gesetzt. Er besteht aus fünf Quadern unterschiedlicher Dimension, zwei Ausstellungshallen links und zwei rechts, in der Mitte ein transparenter Eingangsbau, der wiederum gläserne Ovale für Buchladen, Präsenzbibliothek, Tagungssaal und sogar einen Erholungsraum birgt. Die 20 Hektar große Fläche nicht weit vom Art-Déco-Bahnhof von Lens ist, wie die ganze Stadt, von Kohlenschächten unterhöhlt und trägt kein massives Gebäude. SANAA hat aus der Not eine Tugend gemacht und das Ensemble der Geländeformation angepasst, so dass sich im Inneren ganz leicht differierende Bodenniveaus ergeben.

150 Millionen Euro reichten in Lens für ein Gebäude von insgesamt 28 000 Quadratmetern Grundfläche, davon gut 6000 für reine Ausstellungszwecke. Bei 15 Millionen Euro Jahresbudget darf ein Programm erwartet werden, das dem eigenen Anspruch, neue Besucherschichten zu erschließen, gerecht wird. So unspektakulär das Äußere, so deutlich gegen auch nur die geringste Schwellenangst gerichtet – so großartig ist, was der Louvre Lens zur Eröffnung zu bieten hat. Er ist nicht einfach die „Antenne“ des hauptstädtischen Louvre, als die das Projekt anfangs eher kleingeredet worden war, nicht der Appetithappen, der dazu verführen soll, mit dem TGV ins eine Stunde Fahrzeit entfernte Paris zu jagen. Es ist ein anderes Konzept von Zugang zur und Präsentation der Kunstgeschichte, nicht mehr und nicht weniger.

Die Dauerausstellung in der größten, 120 Meter langen und vollkommen stützfreien Halle folgt keiner geografischen Einteilung mehr, sondern einer der Gleichzeitigkeit der Kulturen. Aus allen Sammlungsbereichen des Louvre, also vom Abendland bis an die östlichsten Ausläufer der mittelmeerisch-islamischen Kulturen, wurden beispielhafte Werke ausgewählt, die, ein jedes für sich, auf einer Zeitleiste die parallele oder auch miteinander verschränkte Entwicklung der Künste in den verschiedenen Weltgegenden vorstellen. Das Fehlen der asiatischen Hochkulturen ist bei diesem mutigen Konzept ein ärgerlicher Mangel. Er erklärt sich mit der Betreuung dieser Bereiche durch das eigenständige Pariser Musée Guimet, sollte aber nicht auf alle Zeit hingenommen werden. Denn was sich etwa am Austausch zwischen christlicher und islamischer Welt – Bild geworden in der Darstellung einer venezianischen Delegation in Damaskus im Jahre 1511 – zeigen lässt, ließe sich für den Kontakt mit China und Japan dokumentieren. Je näher die Zeitleiste an das hier gewählte Schlussjahr 1830 rückt, verengt sie sich auf die französische Kunst. War die Renaissance noch eine europäische Angelegenheit, so sind Barock und Klassizismus beinahe ganz französisch, mit geringen Einsprengseln, und alles kulminiert im gewaltigen Gemälde von Eugène Delacroix, „Der 28. Juli. Die Freiheit führt das Volk“, der berühmten Allegorie der Revolution von 1830. Immerhin ist bemerkenswert, dass sich der Louvre in Nordfrankreich derart als Hort und Künder bürgerlich-liberaler Werte präsentiert, mit all dem romantischen Pathos eines Delacroix und seiner Zeitgenossen.

Dieses Schlüsselbild nationaler Identität hat der Louvre hergeliehen, für ein ganzes Jahr; bis eine erste Partie der 205 Objekte gegen andere Werke ausgetauscht wird, und so fort bis zu einer vollständigen Neuformierung dieser „Galerie der Zeit“ genannten Dauerausstellung nach fünf Jahren. Lediglich drei Monate lang hingegen ist die Sonderausstellung „Renaissance. Revolutionen in den Künsten Europas, 1400–1530“ zu sehen, die die andere große Halle des Museums füllt, hier allerdings auf konventionellen Stellwänden arrangiert. Diese Ausstellung ist sensationell. Denn es werden die Themen benannt, die die intellektuellen Köpfe dieser Epoche bewegten, und nicht länger die stilistischen Entwicklungen der einzelnen Schulen „des Nordens“ oder „des Südens“.

Die Entdeckung des Ichs, die die Künstler in ihren Selbstbildnissen vollzogen, die Untersuchung des Körpers und seiner Anatomie, die Vermessung der Welt, die Wiederbelebung der Antike – das sind die Themen. Dem mittlerweile gängigen Paradigma der Renaissanceforschung entsprechend, wird nicht länger der Vorrang Italiens betont, sondern die parallele, wenn auch unterschiedlich akzentuierte Entwicklung südlich und nördlich der Alpen. Albrecht Dürer rückt in Lens machtvoll in den Blick, der Riesenholzschnitt der „Triumphpforte Kaiser Maximilians“, 1519 von Dürer respektive unter seiner Anleitung geschaffen, ist in seiner vollen Größe von dreieinhalb auf drei Metern zu sehen – was im Stammhaus des Louvre noch nie der Fall war.

Bald danach blickt man dann in eine mit schweren Möbeln ausgestattete, fürstliche Wohnstube, französisch, erstes Drittel 16. Jahrhundert. Auch in solchem Ambiente hat sich die Renaissance als Wiedergeburt antikischen Denkens ereignet. Und man nimmt nebenbei beglückt zur Kenntnis, wie wunderbar sich die – in Paris aufs Strengste getrennten – Gattungen mischen lassen, Gemälde, Skulpturen, Grafik, Möbel und die in Frankreich so geliebten objets d’art, die bei uns unter „Kunsthandwerk“ eher schlecht wegkommen. Das ist das Prinzip Wilhelm von Bodes! In Lens ist zu studieren, was in Berlin in Sachen Gemäldegalerie derzeit noch so umstritten ist.

Mi-So 10-18 Uhr, Eintritt frei. Sonderausstellung „Renaissance. Revolution in den Künsten Europas“, bis 11. März, Eintritt 9 €. Katalog 360 S., 39 €. Lens liegt in Nordfrankreich, unweit von Lille. Kostenloser Shuttle vom Bahnhof zum Museum.

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