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Kultur: Die Vorteile der Slums

Triebfeder Hoffnung: Doug Saunders wagt einen ungewöhnlichen Blick auf die globale Verstädterung.

Die Literatur zur explosiven Dynamik der Megacities ist unüberschaubar geworden. Doug Saunders’ „Arrival Cities“ wagt jedoch einen neuen Blick. Im Mittelpunkt stehen Biografien der Flüchtlinge, die sich in immer neuen Wellen vom Land auf den Weg in die Stadt machen und die oft nur in über Nacht errichteten Elendsquartieren, Holzverschlägen und einfachen Lehm- oder Blechhütten landen: Ohne Wasser und Kanalisation und ohne Schulen im Niemandsland der ausufernden Megacities.

Nach den Prognosen der Vereinten Nationen werden im 21. Jahrhundert weltweit noch einmal zwei bis drei Milliarden Menschen die kärgliche Landwirtschaft und das chancenlose Leben in den Dörfern der ländlichen Provinzen verlassen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Saunders, in London lebender Korrespondent der kanadischen Zeitung „Globe and Mail“, hat 20 Megacities aller Kontinente bereist. Er hat es sich zur Angewohnheit gemacht, nach seiner Ankunft zunächst mit Bus oder Bahn bis zur Endstation zu fahren und von dort die Favelas, Shantytowns, Edge Cities, Banlieues und Gecekondus zu erkunden, die sich an Berghängen oder am Fluss in der Nähe von Mülldeponien, auf den Verkehrsinseln der Schnellstraßen oder auf herrenlosem Wasteland ungeplant ausbreiten.

Zwar gelingt es vielen Zuwanderern ein Leben lang nicht, sich aus ihrem Schicksal als ausgebeutete Lohn-, Hilfs- und Gelegenheitsarbeiter, Straßenverkäufer, Haushaltshilfen, Prostituierte oder Bettler zu befreien. Viele können sich kein Dach über dem Kopf leisten, sie „leben“ auf der Straße, übernachten unter Brücken oder auf ausrangierten Autositzen, gelegentlich nur mit einer Plastikplane bedeckt und sind ohne Geld auf die Suche nach Essbarem auf Mülldeponien angewiesen.

Andere dagegen kommen – oft erst in der zweiten oder dritten Generation – zu bescheidenem Wohlstand. Saunders’ These: Arrival Cities, vor allem in den schnell wachsenden Megacities Chinas, Indiens, Brasiliens, Mexikos, Südafrikas und der Türkei bieten Zuwanderern durchaus Chancen, sich allmählich aus der größten Armut zu befreien und zumindest den Kindern eine mittelständische Perspektive zu geben. Diese Hoffnung ist die Triebfeder, die Mumbai und Dhaka, Schanghai und Shezuan, Manila und Jakarta, Rio de Janeiro und Sao Paulo, Mexico-Stadt und Lima, Kairo, Johannesburg und Lagos, Teheran und Istanbul aus den Fugen geraten lässt.

Saunders’ Beschreibungen weichen von den oft gehörten Klagen über das katastrophale Leben in den Slums ab, ohne es zu beschönigen. Wer unter diesen Umständen leben muss, versucht, sich „einzurichten“, ein Mindestmaß an Familienleben und nachbarschaftlicher Gemeinschaft zu verwirklichen. Durch Aufzeichnung seiner Interviews entsteht ein Bild, das – neben Verwahrlosung, sanitären Mängeln, Angst, Kriminalität und Krankheiten – auch die Kehrseite der Arrival Cities erkennen lässt: Es sind Quartiere, die Einstiegsjobs, Chancen für Kleinstunternehmen, Jobs in lokalen Werkstätten, in der Gastronomie, im Transportgewerbe, auf Baustellen offerieren.

Das Buch bietet die eine oder andere Angriffsfläche. Nicht nur verleitet die etwas holprige Übersetzung zu Missverständnissen; die gelegentlich etwas undifferenziert erscheinende und die nicht immer empirisch belegte Argumentation dürfte Besserwisser auf den Plan rufen. Das scheint der Autor zu antizipieren, wenn er sich präventiv dagegen mit der Versicherung zur Wehr setzt, dass einige Schlussfolgerungen weder der „sozialistischen Linken noch den rechten Marktradikalen gefallen“ werden.

Das Buch deshalb entweder in der einen oder anderen Schublade abzulegen, erscheint dennoch zu einfach, denn trotz Schwachstellen, Wiederholungen und einer fehlenden theoretischen Fundierung ist es geeignet, einen Perspektivwechsel einzuleiten, indem es den an Stereotypen gewöhnten Leser lehrt zu differenzieren. Arrival Cities entwickeln durchaus funktionierende soziale Milieus. Obwohl die Löhne auf der untersten Stufe der sozialen Leiter allenfalls knapp zum Überleben reichen, empfinden viele Zuwanderer bereits dies – verglichen mit ihrer früheren Armut in den Dörfern – als Fortschritt. Viele sparen und überweisen regelmäßig Geld in ihr heimatliches Dorf, so dass auch die ländlichen Provinzen vom Geldtransfer profitieren, während sich dort die Botschaft verbreitet, dass einer der Ihren in der Stadt Fuß gefasst hat. Er dient nunmehr als Anlaufadresse, was andere Dorfbewohner ermutigt, dem Beispiel zu folgen. Der Zyklus der Land- Stadtflucht wiederholt sich immer wieder aufs Neue.

Saunders’ Insistieren auf dieser anderen Perspektive ist ein Gewinn. Sie dürfte in der von Glaubenssätzen nicht freien Stadtdebatte als Sprengsatz wirken. Nüchtern listet er die Faktoren auf, die zur Besserung beitragen können. Der Schlüssel ist stets eine bessere Schulbildung für die Kinder, die es ihnen später ermöglicht, reguläre Jobs zu übernehmen und damit zum Haushaltseinkommen beizutragen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, ein eigenes kleines Unternehmen aufzubauen oder gar Immobilienkleinsteigentum zu erwerben. Wenn zudem der Staat hilft, indem er Rechtsgarantien durchsetzt, polizeilichen Schutz vor Drogengangs und Bandenkriegen gewährleistet, Wohnungsbau sowie den Ausbau der kommunalen Infrastruktur vorantreibt, sind die Weichen gestellt, dem Teufelkreis zu entkommen.

Der Autor ist Professor für Stadt- und Regionalökonomie an der TU Berlin.











– Doug Saunders:

Arrival City. Karl Blessing Verlag, München 2011. 576 Seiten, 22,95 Euro.

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