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Caroline Fetscher.

© Tsp

„Sound der Zeit“: Die Welt als Hörspiel

Auf die Idee musste ja endlich einer kommen! So jubelten damals die Zeitungen.

Von Caroline Fetscher

Auf die Idee musste ja endlich einer kommen! So jubelten damals die Zeitungen. Der hessische Medizinalrat Robert Sommer hatte einen Bau mit Kabinen entworfen, in denen Städter gewissermaßen in Stille baden konnten. „Öffentliche Ruhehallen“, wie den für die Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911 errichteten Prototyp wünschte sich der Mediziner für das ganze Land. Auch wenn das Echo auf die Ruhehalle groß war, sie setzte sich dann nicht durch. Nicht mehr einzudämmen war das Echo der Epoche des Lärms. Noch in Walden, an den sich H. D. Thoreau in die entlegene Natur flüchtete, um Vogelzwitschern, Eulenrufen und dem Wind in den Blättern nachzulauschen, beklagte er in seiner Enklave die akustische Invasion durch Eisenbahnlärm.

Mit der Industriellen Revolution war, in den Städten zumal, die Stille abhandengekommen. Lokomotiven donnerten, Fabriklärm hämmerte, Automobile knatterten, die Geschäftigkeit der Gesellschaft produzierte mehr Geräusche denn je. Indes veränderte sich zugleich dauernd der „Sound der Zeit“, so der Titel einer reichen, kenntnisreichen Essaysammlung zu den Klangwelten der Moderne. (Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute. Hg. Gerhard Paul, Ralph Schock. Wallstein Verlag, Göttingen, 2014. 607 Seiten, 77 Abbildungen, 49,90 €).

An die hundert, oft brillanter, Aufsätze bietet der Band, die in alles hineinhorchen, was die Akustik im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ausmacht. Um den Lärm der Großstadt geht es, um das Entstehen von Tonträgern, den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm, den Skandal um Strawinskys „Sacre du Printemps“ von 1913, um „neue Klangsignaturen des Krieges“ im Ersten Weltkrieg, die Rolle des Volksempfängers in der NS-Propaganda, Schlager, Politsongs, Sportreportagen, Hörspiele, studentische Sprechchöre, Lauschangriffe, mobile Klingeltöne.

Da sich Historiker überwiegend mit Texten und visuellem Material befassen, die Aufmerksamkeit auf akustische Quellen gelenkt werden, auf die „Hegemonie über den Hörsinn“, die mit neuen „Aufnahme-, Speicher- und Verbreitungsmedien wie Mikrofon, Schallplatte und Radio“ um ein Vielfaches verstärkt wurde. Reden, Melodien können Millionen von Zeitgenossen erreichen, der Wandel akustischer Ästhetik trägt erheblich zu deren Prägung bei. „Klänge sind Bedeutung“, fasst Jan Philipp Missfelder das in seinem Beitrag zum 19. Jahrhundert zusammen, „sie tragen sozialen Sinn.“

Dass Stimmen offizieller Vertreter der Macht direkt in Wohnzimmer und Küchen dringen können, schien noch unter Kaiser Wilhelm II. nicht opportun. Als der Kaiser auf die Walze eines Phonographen Zitate des von ihm besonders geschätzten Schriftstellers Ludwig Ganghofer aufgesprochen hatte, mühte sich der Hof um Kontrolle über die Tonträger. Man fürchtete, deutet Martin Kohlrausch, eine „Trivialisierung der Monarchie“, und die „Kaiser-Walze“ blieb unter Verschluss.

Wenige Jahre später würden sich Demagogen und Politiker ebenso um die Macht am Mikrofon reißen wie heutige Funktionseliten um die Präsenz in Talkshows, die ja wörtlich übersetzt „Sprechvorführungen“ sind. Dennoch tragen Stimmaufnahmen von Mächtigen mitunter weiter das Potenzial, deren Nimbus zu beschädigen, was der aktuelle Rechtsstreit um Tonkonserven mit Altkanzler Helmut Kohl beweist.

Wie emblematisch Klänge für eine ganze Ära sein können, legt der Begriff nah, der für die „Roaring Twenties“ erfunden wurde, die 20er Jahre, die mit Jazz, mit Umwälzungen in Musikproduktion, Musikrezeption und Tanzkultur neue soziale Praktiken über das Ohr brachten. Von ihren Urhebern abgelöst, heißt es in dem Band, reisen Stimmen und Klänge grenzenlos, rund um die Welt. Beim Lesen wird die akustische Globalisierung bewusst, in der wir alle leben. Um uns Zeitgenossen klingelt und fiept es, Muzak erschallt in Fahrstühlen und Shoppingmalls, Nachrichten transportieren die Klänge ferner Kriege, Millionen von Youtube-Aufrufen verbreiten Klänge von außen in privaten Räumen. Täglich verarbeiten wir Zeitgenossen eine gewaltige, kakofonische Partitur. Der dicke Band zum Hören hilft, diese Partitur zu lesen.

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