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Kultur: Die Welt ist eine Scheibe

Geistzeit und Zeitgeist: Gisela von Wysocki erinnert sich an ihre musikalische Kindheit in Berlin

Jeder kennt diese staunende Kinderfrage bei der ersten Begegnung mit Fernsehern oder Radios: Wie passen nur all die Menschen, all diese Stimmen in so einen kleinen Apparat? Unendlich viel größer war die Magie freilich noch für die Kinder des bildschirmlosen, vorelektronischen Zeitalters, als die Welt aus holz- und stoffumspannten Kästen mit Aufschriften wie „Radio Beromünster“ ins Wohnzimmer kam und Musik von lakritzeschwarzen, tellergroßen Scheiben aus rauschenden Trichtern erklang.

Mit der Kindheit der Berliner Schriftstellerin Gisela von Wysocki hat das alles noch eine gesteigerte Bewandtnis. Denn ihr musikalischer Vater brachte die Arien und mehr noch die Schlager seiner Zeit am Abend aus dem Büro gleichsam von ihrem Ursprung mit. Dieser Georg von Wysocki war in Berlin von der Mitte der 20er Jahre bis 1952 Produzent und Unterhaltungsmusikchef der schwedisch-deutschen Schallplattenfirma Odeon, zu deren Repertoire in der Dämmerung des grammofonischen Mediums sogar noch die frühen Beatles gehörten.

Herr von Wysocki, ein in allen Genres zwischen Oper, Operette, Film- und Varietémusik höchst bewanderter Mann, er spielte der Familie allabendlich seine brandneuen Schellacks vor. Und die kleine Tochter wundert sich (und gruselt sich nicht wenig), wie der ansonsten formbewusste Papa es wohl schaffte, ganze Orchester und die Sängerinnen und Sänger dazu zu verführen, sich so klein zu machen, dass sie am Ende in diese schwarzen Rillen und in eine Papphülle passten: um dann in schwindelerregenden Drehungen wieder geisterhaft zu hörbarem Leben erweckt zu werden.

Ein Schwindel natürlich. Und ein übernatürlicher Zauber. Diese Kindergeschichtserkenntnis könnte freilich nichts weiter sein als eine flache, sozusagen schallplatte Pointe. Doch in Gisela von Wysockis autobiografischer Erzählung „Wir machen Musik“ wird das Bild von den verwunschenen Musikern auch zum witzigen Sinnbild. In den Klängen, die von der Kinderzeit herüberwehen, schwingt materiell wie ideell bereits beides mit: Untiefe und Abgrund; die winzigen Rillen der Schallplatte und das in der Musik bewahrte Echo einer vergangenen Zeit und Kultur. Darin klingen und singen Schmalz und Schmerz, Liebe und Tod. Am Ende vom Anfang – die Autorin ist 1940 geboren – auch: Krieg und Frieden.

Es ist eine raffiniert reflektierende Komposition in 64 Kapiteln, die als kurze Prosa-Szenen miteinander verfugt und zugleich gegeneinander geschnitten sind. Man spürt da die Essayistin, die früher mit ihren Aufsätzen und Büchern über „Weiblichkeit und Modernität“, Virginia Woolf, Marlene Dietrich, Sylvia Plath, Greta Garbo und Unica Zürn brilliert hat. Und erkennt in der Erzählerin das subtile szenische Talent, mit dem Gisela von Wysocki in ihrem schönen Musik-Theaterstück „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ eine poetische Choreografie aller Bühnengattungen erdacht hat.

Das Berliner Kriegskind, schreibt die mit ihren Erinnerungen spielende Autorin, ist „am Arm der Musik“ und „auf den Flügeln des Gesanges“ ins Leben geleitet worden. Zu ihrer „éducation musicale“ gehören allerdings nicht nur, auf Schallplatte oder live dargeboten, die familiären Hauskonzerte; es ist auch der Hauch des Glamourösen, den der Vater aus den Aufnahmestudios mitbringt – wenn er eben noch mit Willy Fritsch, Lilian Harvey, Hans Albers, Zarah Leander oder gar der ungarischen Nackttänzerin Clara Tabody zu tun hatte. Es sind einige der größten Stars der Zeit, die leibhaftig oder im tönenden Abglanz in das Heim der Familie Wysocki dringen.

Dabei kontrastiert in den Kriegs- und Nachkriegsjahren das eher nur gerüchteweise erfahrene Flair der Metropole mit dem Geruch von Viehstall und Landluft, weil die Familie sich ausquartiert im brandenburgischen Havelland durchschlägt. Auch dort freilich flanieren vor ihren Seegrundstücken gelegentlich noch die Exbomben anderer Zeiten: „Wenn die Schauspielerin Maly Delschaft sich näherte, flüsterte mir meine Mutter zu, sie habe zu den Favoritinnen für die Rolle der Nachtclubsängerin im Blauen Engel gehört.“ Das wirkt kalkuliert komisch, ohne dass die Autorin den Namen der großen Marlene D. (statt jener Maly D.) eigens nennen müsste.

Auch in dieser Außenwelt der Innenwelt ertönen als Sirenengesang die väterlichen Melodien der Großstadt. Lieder wie: „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n“ – „Wieso ist der Walter so klug für sein Alter“ – „Ich wollt ich wär ein Huhn“ oder „Ausgerechnet Bananen“. Oft vermag es die Erzählung, allein durch die bloße Nennung der Couplet-Titel eine Atmosphäre aus Sentiment und Aberwitz zu schaffen; und wenn Gisela von Wysocki den österreichischen Ufa-Star Willi Forst als Pianisten eines sinkenden Ozeanriesen mit seinem Filmlied „Es wird ein Wein sein, und wir wern nimmer sein“ zitiert, dann ist nicht nur die Ufa schon fern vom rettenden Ufer.

„Wir machen Musik“ liest sich heiter und schwermütig zugleich. Aber es ist kein nostalgisches Buch. Gisela von Wysocki beschreibt diese „éducation musicale“ in ihren pointillistischen Prosaskizzen auch als Erfahrung des Misslingens. Doch wenn sie dabei die eigene schweigende Sturheit vor dem Mikrofon im Aufnahmestudio des Vaters schildert, dann werden kindliche Scham und Trotzhaltung weder verklärt noch erklärt. Es ist eine der frühen Erfahrungen des Erwachsenwerdens, die sich im mitdenkenden Kopf des Lesers reimen mag – und doch ein Stück weit so rätselhaft bleibt, wie es Kindheit und spätere Erinnerung als Schattenspiel aus Illusion und Hoffnung, Verlust und Neugewinn immer sind.

Es gibt freilich auch das frühe Glück. Und glückhaft ist, dass der Vater am geretteten Flügel, das Mädchen Gisela unschuldig unwissend auf dem Schoß eines musikbegeisterten russischen Soldaten, die Familie am Ende des Krieges vor der Rache der Sieger bewahrt. Aber bald kommen dem Mädchen die ersten Fragen und Zweifel. Warum ist so oft von Abwesenden die Rede, was ist beispielsweise aus dem Freund des Vaters, dem berühmten Tenor Richard Tauber geworden? Die versiegelten, verschwiegenen oder nur angedeuteten Worte „jüdisch“ und „Emigrant“ wecken die Neugier der späteren Frankfurter Adorno-Studentin, die dann als Verdikt über die Unterhaltungskultur in den Zeiten der Barbarei das Wort „Fun ist ein Stahlbad“ hören und lesen wird.

Mit der Familie zurück in Berlin beginnt für die Gymnasiastin die Ablösung von der Welt der Couplets und des „Benjamin vom Tauentzien“. Eine Schubert-Sonate evoziert das Schwinden einer Vergangenheit aus „Zittergras, roten Wegen, verbrannten Schreien und kalten Sternen“, wie es Wysocki mit García Lorcas Worten benennt. Ihr dichtes Buch erinnert dabei in seinen schönsten, filigransten Passagen auch an ein Vorbild: Walter Benjamins „Berliner Kindheit“. Einmal, da hat die Schülerin in den 1950er Jahren im Musikhaus am Kurfürstendamm nach wochenlanger Vorbestellung als Import aus Amerika eine Aufnahme von Arnold Schönbergs „Erwartung“ erworben. Bei der S-Bahnfahrt nach Hause ist sie dann so tief in das walddunkle (englische) Libretto versunken, dass sie erst an der Endstation Griebnitzsee im Ostsektor erwacht.

Wie Gisela von Wysocki den russischen Grenzpolizisten nun den Inhalt einer amerikanischen Musik-Sendung erklärt und die Fiktion, die Notlüge zur höheren Wahrheit macht, allein dies ist ein Kabinettstück der poetischen Erinnerungsliteratur. Geistzeit statt Zeitgeist.

Gisela von

Wysocki:
Wir

machen Musik.

Geschichte einer

Suggestion.

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2010.

258 Seiten, 22,95 €.

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