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Minimalist. Der Bariton Christian Gerhaher.

© Felix Broede

"Die Winterreise" im Pierre-Boulez-Saal: Ein Saal, zwei Seelen

Christian Gerhaher und Daniel Barenboim mit Schuberts "Winterreise" im neuen Pierre-Boulez-Saal im Berlin

Es herrscht eine schöne Intimität in diesem hölzernen Gehäuse, der neuen Heimstatt für Kammermusik im nun vor einer Woche eröffneten Pierre-Boulez-Saal an der Französischen Straße. Die Zuschauer sitzen nur eine Handbreit von Christian Gerhaher und Daniel Barenboim entfernt, und auch wer den Bariton wie den Pianisten nur vom ovalen Rang aus durch die Gitterstäbe des Geländers erspähen kann, ist nahe dran an dieser „Winterreise“. Ein Hausmusikabend mit über 600 Gästen, nichts, gar nichts entgeht dem Ohr bei dieser dem Gesang schmeichelnden und dennoch klaren Akustik.

Man möchte so gerne loben und preisen. Dass der Saal in der Barenboim-Said-Akademie auch als Ort für Recitals ein Riesengewinn ist für Berlin. Dass der Hausherr Barenboim sich beim Eröffnungskonzerte-Marathon noch an diesem Schubert-Abend persönlich ans Klavier setzt. Dass Gerhaher „seiner“ Schubert-Lesart treu bleibt, dem an Dietrich Fischer-Dieskau geschulten Verzicht auf Verzweiflungsgesten und Melodramatik. Wilhelm Müllers existenzialistische Verse und das Wissen um Schuberts Todesnähe legen solches Pathos ja nahe. Wie in der Einspielung mit seinem kongenialen Klavierbegleiter Gerold Huber (2001) setzt Gerhaher auf Reduktion, Konzentration, Minimalismus. Das vollendet schöne Timbre als Essenz der „Winterreise“, dieses meisterlichen Klassikschlagers mit Ohrwurmgefahr, kondensiert bis zum Parlando, zur Tonlosigkeit.

Aber es will nicht gelingen. Weil der hellhörige Saal nicht kaschieren kann, wie dem Bariton einzelne Töne unmotiviert in ein anderes Register entgleisen, wie er sich in den höheren Lagen müht und wie stereotyp er Stimmung und Charakter der Lieder gestaltet. Ob in „Gefror’ne Tränen“, „Rast“, „Der Wegweiser“: Das fast Gesprochene bleibt den tiefen Lagen vorbehalten, die vibratolose, fahle Farbe der Mittellage, die gelegentlich dramatische Intonierung den höheren Passagen. Nicht dass es keine bewegenden Momente gäbe und die bis zur meditativen Trance verlangsamten Tempi oder auch die radikale Abstraktion bei der „Letzten Hoffnung“ nicht ihren Reiz hätten. Aber es fehlt die innere Spannung, der still mitreißende Bogen. Die „Winterreise“ zerfällt in schöne Stellen, in traurige Fragmente.

Barenboim schwelgt in Rubati, Gerhaher intoniert ein stilles Verschwinden

Zumal Daniel Barenboim am oft zu lauten Flügel (warum spielt er auch hier ohne Deckel?) einen ganz anderen, expressiven Schubert spielt. Oder liegt es am Sitzplatz im Rang, wenn der rollende Bass „Im Dorfe“ den Gesang förmlich zubellt, ist der Saal fürs Kunstlied nicht optimal? Beim finalen „Leiermann“ schwelgt Barenboim in Rubati, veranstaltet großes Theater, während Gerhaher das Gegenteil intoniert, den stillen Tod, ein stilles Verschwinden. Das geht nicht zusammen. Ovationen.

Noch einmal an diesem Sonntag, 11 Uhr, evtl. Restkarten an der Abendkasse

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