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Schöne neue Welt. Jonas Lüschers Roman spielt im Silicon Valley.

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Jonas Lüschers Debütroman "Kraft": Die Zukunft war ich

Zwischen traditioneller Bildung und neuer digitaler Welt: Jonas Lüscher erzählt in „Kraft“ vom Scheitern eines Schwaflers - ein hochkomischer, philosophischer Roman.

„Sea Steadies“, künstliche Inseln, wenn darauf die Menschheit nicht gewartet hat! Schließlich ließe sich in internationalen Gewässern treibend, befreit von staatlichen Regularien, endlich die Utopie einer vollkommenen Gesellschaft verwirklichen. Vergleichbar einer „Treibhaustomate auf dem reinen, keimfreien Substrat der digitalen Technologie“, wie es in Jonas Lüschers Roman „Kraft“ heißt. Kein Wunder, dass schwimmende Inseln so etwas wie der feuchte Traum milliardenschwerer Silicon-Valley-Investoren vom Schlage eines Tobias Erkner sind, Gründer des fiktiven „The Amazing Future Fund“ und Initiator eines Philosophy Slams zum Thema „Theodicy und Technodicy: Optimism for a Young Millennium“.

Lüschers Protagonist Richard Kraft, Rhetorik-Ordinarius aus Tübingen und einer der geladenen Wettstreiter, bekommt von dem Internet-Guru diese Zukunftsvision in einem lächerlich hippen Mac-and-Cheese-Lokal in San Francisco aufgetischt. Statt an „dynamische, fluide Individuen“ muss der deutsche Gast jedoch an Gummiboote auf dem Mittelmeer denken – voll mit Menschen, die, im besten Fall, später einmal Tomaten in europäischen Treibhäusern pflücken dürfen. Fehl geht aber, wer nun denkt, dass man so viel Fortschrittsskepsis von einem alteuropäischen Intellektuellen, konfrontiert mit dem unerschütterlichen Optimismus der amerikanischen Start-up-Szene, ja wohl erwarten darf.

Vom Schwafler zum Vielversprechenden

Denn für Kraft sind kapitalismus- und technikkritische Gedanken eine neue, ja beschämende Erfahrung. Schließlich hat er als „Thatcherist“ und Anhänger neoliberalen Denkens seit Studientagen die Befreiung des Individuums „aus dem Würgegriff des Staates“ gefordert, bis hin zur Abschaffung des Bafögs. Was Kraft seinerzeit freilich nicht allein aus Überzeugung tat, sondern auch aus Gründen der Distinktion gegenüber dem umwelt- und friedensbewegten Mainstream an der FU Berlin der frühen Achtziger. Zumindest der berufliche Erfolg gab ihm recht, galt der talentierte „Schwafler“ doch bald schon als „der Vielversprechendste unter den Vielversprechenden“.

Peinlicherweise aber ist die verstörende Welt der „quantitativ Verblendeten“, auf die Kraft in der Gegenwart während seines Aufenthalts an der Stanford University stößt, exakt das Resultat dessen „was er ein Leben lang theoretisch durchdacht und argumentativ verteidigt hat“, wie er sich eingestehen muss. Die „Diskrepanz zwischen Erträumtem und Erreichtem“ wird Kraft freilich zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt bewusst: Schließlich ist der von Unterhaltsverpflichtungen Gequälte in den USA, um im Auftrag seiner scheidungswilligen zweiten Gattin jene eine Million Dollar Preisgeld abzuräumen, mit dem er sich buchstäblich freikaufen könnte.

Der Studienabbruch Lüschers hat sich gelohnt

Wozu der Rhetorikprofessor nichts weiter tun müsste, als seinen verbliebenen „Restoptimismus“ zusammenzukratzen und bei dem Wettbewerb in 18 Minuten Erkner und der per Livestream zugeschalteten Welt zu erklären, warum Letztere, so wie sie ist, gut ist – sich aber dank der Technik trotzdem weiter verbessern lässt. Eigentlich eine Kleinigkeit für einen mit allen philosophischen Wassern gewaschenen „Schwadroneur“.

Natürlich wird Lüschers Protagonist an dieser Aufgabe scheitern. Nicht gescheitert ist dagegen der Autor, nämlich daran, die Erwartungen zu erfüllen, die sein erster Roman, vier Jahre nach seiner gefeierten Novelle „Frühling der Barbaren“ wecken musste. Ein Roman, für den der 1976 in der Schweiz geborene Wahlmünchner sogar seine eigene akademische Karriere abbrach. Was durchaus schade ist, wollte Lüscher doch mit einer philosophischen Dissertation begründen, warum in einer zunehmend von quantitativen und analytischen Modellen beherrschten Gesellschaft narrative Beschreibungen von Einzelfällen, sprich literarische Texte, nötiger denn je sind.

Der Essayist und Romanautor Jonas Lüscher.

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Fulminant erzählte Szenen

Freilich ist für diesen Zweck ein gelungener Roman wie dieser besser, da quasi selbstevident. „Kraft“, eine herrlich böse Gelehrtensatire, erzählt die Geschichte einer Desillusionierung: Vier Tage hat der um seinen Vortrag ringende Protagonist noch, die er vor allem im Mädchenzimmer der Tochter seines Gastgebers verbringt, umzingelt von Basketballstars und Singvögeln, oder im Lesesaal des Hoover Towers, wo ihm die mexikanische Reinigungsfrau mit ihrem Staubsauger noch „den letzten Rest Lebenskraft“ raubt. Vier Tage, in denen sich in Rückblenden und Erinnerungen Krafts Lebensgeschichte entfaltet, seine akademische und politische Vita ebenso wie seine amouröse, etwa seine Beziehung zu Ruth: Die Kunststudentin demolierte einst auf einer Anti-Reagan-Demo zuerst Krafts Freund István, einem ungarischen Möchtegerndissidenten und angehenden „Nuklearstrategen“, mit einer Gerbera ein Auge, um sich bald darauf, wegen Schuldgefühlen wehrlos, von Kraft auf seine WG-Couch schwafeln zu lassen.

Fulminant erzählte Szenen wie diese, ebenso hochkomisch wie philosophisch abgründig, finden sich in Lüschers Roman immer wieder, bis hin zu einer nur mit viel Glück überlebten Ruderfahrt in der Gegenwart. Diese endet für den Meisterdenker nicht inspirierend, sondern im Morast der San Francisco Bay, nackt und auf allen vieren, „das Seegras wickelt sich um sein Gemächt und kitzelt seinen Hodensack“.

Lüscher hält seinen Protagonisten auf Distanz

Mag sich der Roman auch mitunter, überraschend für einen Schweizer Autor, etwas zu sehr in den politischen Wirrungen der Bonner Republik verlieren, etwa in einer seitenlangen Erinnerung an Kohls „geistig-moralische Wende“, ist er doch aufregend aktuell, so wie seine Debütnovelle über die Finanzkrise: Schließlich erinnert Preisstifter Erkner mit seiner Faszination für Kunstinseln und Unsterblichkeit an den Internet-Investor und Trump-Buddy Peter Thiel – und ist gerade die Politik des neuen US-Präsidenten von nichts so sehr geprägt wie von „quantitativer Verblendung“.

Wie schon in seiner Novelle hält Lüscher auch dieses Mal seinen Protagonisten ästhetisch eindrucksvoll auf Distanz: mit an Kleist und Sebald geschulten, abenteuerlichen Satzgirlanden und einem altmodisch-auktorialen, geradezu gottähnlichen Erzähler. Richtig, für die Kunst war die Theodizee ja nie ein Problem: Mag die Wirklichkeit noch so sehr am Übel und Bösen in der Welt leiden, die Literatur nutzt beides dankbar als Motor ihrer Fiktionen.

Jonas Lüscher: Kraft. Roman. C.H. Beck, München 2017, 237 S., 19,95 €.

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