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Kultur: Die Zunge hat keine Knochen

100 zerstörte Autos pro Nacht sind normal: Über große Worte und den alltäglichen Rassismus / Von Benjamin Korn

Als sich der Rauch verzogen hatte, präsentierte sich Jacques Chirac, 18 Tage nach Beginn der Unruhen, zum ersten Mal vor dem französischen Volk; er sah im Fernsehen, mit seiner dicken Hornbrille und seinem von Falten zerfurchten Gesicht, sehr alt und mitgenommen aus. Es war ein schlechtes Jahr für ihn gewesen. Erst hatte er das Referendum zur europäischen Konstitution, das die letzten zwei Jahre seiner Amtszeit überstrahlen sollte, schmählich verloren, dann musste er wegen eines leichten Schlaganfalls, den er als Sehstörung deklarieren ließ, seine Amtsgeschäfte an den Premierminister delegieren, und jetzt schlugen seine Untertanen ganze Stadtteile zusammen. Er verstand die Welt nicht mehr, er war überfordert, er wollte endlich seine Ruhe, und in diesen Punkten symbolisierte er wahrlich ganz Frankreich. Frankreich hatte Angst, Frankreich verstand die Welt nicht mehr, Frankreich wollte wieder ruhig schlafen.

Er bot eine genaue Analyse der Verhältnisse, seine Rede glich aufs Haar einer anderen, die er vor genau zehn Jahren gehalten hatte, um den „sozialen Bruch“ in der französischen Gesellschaft anzuprangern, aber nichts, gar nichts hatte sich geändert. Noch immer über 40 Prozent Arbeitslosigkeit unter den Kindern der Einwanderer, noch immer Rassendiskriminierung bei der Suche nach Arbeit, bei der Wohnungssuche, vor der Diskothek, noch immer die ewige Arroganz der „Civilisation française“ gegen alles Fremde.

Jetzt wettert Chirac gegen die „Sinnkrise“, die „Identitätskrise“ der französischen Gesellschaft, er bezeichnet die Jugendlichen aus den Vorstädten als „Söhne und Töchter der Republik“ und resümiert: „Wir werden nichts Dauerhaftes konstruieren ohne Respekt, ohne das Gift der Diskriminierung zu bekämpfen.“ Es war, wie immer, wenn Chirac gegen die Xenophobie wettert, eine schöne Rede. Nur, was hat Chirac in den zehn Jahren zwischen den beiden schönen Reden getan, um den „sozialen Bruch“ zu heilen?

„Die Zunge hat keine Knochen“, sagt ein arabisches Sprichwort. Immer noch legen die Fabrikbesitzer, ja die Angestellten in den Arbeitsämtern, die Bewerbungen beiseite, wenn auf ihnen Mohammed statt Marcel steht. Immer noch teilt die Hautfarbe die Gesellschaft in zwei Teile. Der einzig konkrete Vorschlag Chiracs: Die Einführung einer Art Zivildienst für die Jugendlichen aus den Ghettos, damit sie den Respekt vor der Autorität lernen, ihre Schulbildung vervollkommnen und eine Ausbildung erhalten, um Feuerwehrmann, Polizist oder Soldat zu werden, ändert nichts daran. Das Kernproblem Frankreichs wurde von diesem improvisierten Vorschlag – mehr ein law and order-Signal an die eigenen rechten Wähler als ein Ausweg für die verzweifelten Jugendlichen – nicht berührt.

Das Kernproblem ist der Rassismus. Er sitzt so tief, dass viele Franzosen ihn nur noch bei den anderen wahrnehmen; vorzugsweise in den USA, wo es immerhin eine schwarze Außenministerin gibt und man im öffentlichen Leben unzählige Kinder aus den Ghettos sieht. Aber hierzulande? Im Land der Revolution, auf dessen Rathäusern die Worte Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit eingemeißelt sind, wird den Nachkommen der Immigranten aus Nord- und Schwarzafrika nicht der geringste Platz eingeräumt, weder in der Wirtschaft noch in der Staatsverwaltung noch in den Medien. Man macht sich vom eingefleischten Fremdenhass nur schwerlich eine Vorstellung.

Jüngst erzählte mir der Besitzer einer Gärtnerei auf dem Land, er habe seinen maghrebinischen Lehrling entlassen müssen, weil die Dorfbewohner ihn wie einen Pestkranken von ihren Grundstücken verjagten. Der Rassismus ist so tief verwurzelt, dass es, obschon sie über zehn Prozent der Bevölkerung repräsentieren, keinen einzigen Bürgermeister arabischer oder afrikanischer Abstammung in Frankreich gibt, einen einzigen Großindustriellen und einen einzigen Minister maghrebinischer Herkunft. Dieser Minister, der Schriftsteller Azouz Begag, zuständig für Integration und Chancengleichheit – wofür sonst? –, hat jüngst erzählt, dass man ihn auf Reisen durch die Provinz nicht für den Minister, sondern für den Leibwächter des Ministers zu halten pflegt.

Die französische Gesellschaft kann das Problem nicht mit sozialen Maßnahmen und Investitionen lösen – sie muss ihre Mentalität ändern, und das ist sehr viel schwerer. Frankreich ist eine Gesellschaft, die von Mauern durchzogen ist; nicht nur eine Klassengesellschaft mit scharf geschnittenen Konturen und einer selbstbewussten Geld- und Geburtsbourgeoisie, Frankreich ist auch eine alte Kolonialmacht mit einem nie verblassten zivilisatorischen Dünkel und einem kulturellen Überlegenheitsgefühl, das bis zum Sonnenkönig zurückreicht, und das mit einem stillen, erbitterten Hass gegen die ehemals Kolonisierten gemischt ist.

Die Ghettos sind Repliken der alten Kolonien und Zonen des sozialen Ausschlusses in einem. Sie stehen unter ökonomischer und seelischer Quarantäne. Die Bewohner sind Parias. Es sind Gebiete, die vor den Unruhen sogar von der Polizei gemieden wurden. Weder die Journalisten der Tageszeitungen noch die Fernsehteams verirrten sich dorthin – ja, wir erfuhren erst nach Ausbruch der Unruhen, dass allnächtlich in Frankreich im Schnitt 100 Autos angezündet wurden. Die Lunte brannte jede Nacht: 28 000 Autos seit Jahresbeginn! Und dann ging, weil der Innenminister Sarkozy Präsident werden will, weil er die jugendlichen Bewohner der Ghettos „Abschaum“ nannte und als Retter Frankreichs gefeiert werden möchte, das Pulverfass hoch.

Wundern muss man sich nur darüber, dass die Aufstände nicht schon früher ausbrachen, in diesen grauen Steinwüsten, in denen nichts mehr funktioniert, weder die Aufzüge noch die Kanalisation. Wo hat man eine Rebellion gesehen, bei der die Aufständischen den Laden anzünden, in dem sie ihr Essen kaufen, den Kindergarten, den ihre Schwester besucht, die Fabrik, in der ihr Vater arbeitet? Der Aufstand hatte nichts von einer Revolution. Es war eine reine Verzweiflungsrevolte der verlassenen Kinder Frankreichs, ein Schrei, ohne Rädelsführer, ohne theoretischen Überbau, ja ohne Hass auf den Reichtum der anderen; sonst wären sie zu den Champs-Elysées gegangen und hätten Luxuscabriolets in Brand gesteckt und nicht ihre eigenen armseligen Autos und Busse, die sie dringend brauchen, um nach Paris zu fahren. Was sie zeigen wollten? Dass sie existieren. Sie wollten sich sichtbar machen, weil sie für die Mehrheit unsichtbar sind. Und sie wurden gesehen.

Auf einmal reisten die französischen Journalisten nicht mehr nach Chicago, um über die dortigen Ghettos zu schreiben. Endlich überquerten sie den Abgrund der „Périphérique“, der Stadtautobahn, die nicht über den Ozean, sondern zu einem anderen Planeten führt, in dem man ein fremdartiges Rap-Französisch spricht, das wie Hundebellen klingt, ein Ort, wo das Gesetz der Banden herrscht und die Polizei nur in Mannschaftsstärke aufzutreten wagt. Auf einmal fuhr das Fernsehen, das gern aus New Orleans berichtet, in die eigenen von Elend überschwemmten Satellitenstädte, und „Paris Match“ fotografierte Straßenschlachten und brennende Lagerhallen nicht in Afghanistan, sondern in Aulnay-sous-Bois. Frankreich blickte in die Lebenswelt der Ärmsten seiner Armen.

Aber es blickte nicht freundlich hin – denn die Aufständischen hatten sich an den Autos vergriffen; an das, woran der Bürger am meisten hängt. Das zweite Verbrechen war noch weniger entschuldbar: Es waren keine Franzosen! Oh pardon, natürlich waren es, betrachtet man ihre Pässe, Franzosen, aber die weiße Bevölkerung desolidarisierte sich. Für sie waren und bleiben es Untermenschen. Das war das Glück der Herrschenden, sonst hätte es, bei der gegenwärtigen Lage leicht einen Flächenbrand geben können. Wären es die Fischer gewesen, die vor zehn Jahren in Rennes das alte Stadtparlament mit seinen unschätzbaren Kunstschätzen niederbrannten, wären es Bauern gewesen, die ein paar hundert polnische Schweine geschlachtet hätten, wären es die Lastkraftwagenfahrer gewesen, die 1992 die Wirtschaft des Landes für ein paar Wochen lahm gelegt und ihr Schäden zugefügt hatten, gegen die die Rechnung aus den Vorstädten ein Klacks ist: kein Problem. Die Franzosen hätten sich solidarisiert – aber das hier, das war der „Abschaum“, den Sarkozy „mit dem Kärcher“ wegräumen wollte. Dafür schnellten Sarkozys Umfragewerte auf nie gekannte Höhen: 61Prozent der Franzosen schenken ihm heute ihr Vertrauen. So feiert man den Brandstifter als Feuerwehrmann und ersten Bullen Frankreichs. Er hat aus politischem Kalkül, mit entwürdigenden Schimpfworten, die seither von jedem Taxifahrer nachgeplappert werden, ganze Bevölkerungsteile stigmatisiert. Seine Rechnung ging auf. Er wird den Nagel des Rassismus, der in Frankreich ein gewaltiges Wählerpotenzial hat, immer tiefer in die Wand rammen.

Die Mehrheit hat sich entschlossen, der Sache nicht auf den Grund zu gehen. Es wäre der Abgrund der eigenen Seele. Es wäre die Infragestellung aller Privilegien und bequemen Klassenschranken. Man gibt sie nicht kampflos aus der Hand. Lieber behauptet man: Es waren Ausländer, Islamisten, Drogenmafias. Nur: Die Gefahr dieser Geschichtsblindheit ist, dass sich die Geschichte wiederholt. Und beim nächsten Mal werden die übertriebenen Vergleiche der Auslandspresse, die die Ereignisse mit den Kriegen in Irak oder Tschetschenien verglich, vielleicht Wirklichkeit. Und vielleicht gibt es dann auch einen realistischeren Grund, den Ausnahmezustand, der im Algerienkrieg über die Großväter verhängt worden war, auf die Nachkommen auszuweiten.

In der Nacht zum 18. November, hieß es in den Nachrichten, sei es in Grenoble zu einer Massenschlägerei und heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Nein, nicht mit den dunkelhäutigen Bewohnern der Satellitenstädte, nur mit schwer betrunkenen Studenten. Der Beaujolais Nouveau war schuld. Am selben Tag stand im „Parisien“, Sarkozy habe am Vortag die Veröffentlichung eines Buchs über seine Frau Cecilia verhindert, die ihm vor wenigen Wochen mit einem französischen Geschäftsmann marokkanischer Herkunft durchgebrannt war. Und im Nachrichtenradio France Info sagte der Sprecher: „Die Situation ist wieder normal. Nach Angaben der Polizei wurden in der vergangenen Nacht 100 Autos Opfer der Flammen. Das ist die Durchschnittszahl der Autos, die seit Jahresbeginn in Frankreich allnächtlich in Brand gesteckt werden.“ Frankreich kann wieder ruhig schlafen.

Der Autor lebt als Publizist und Theaterregisseur in Paris.

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